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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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einer Stunde ereignet hatte.
    Vespers Hände begannen zu zittern.
    Es war also wieder passiert.
    Instinktiv griff sie nach dem Telefon und rief bei Ida an. Diesmal hob ihre Freundin ab.
    »Wo steckst du?«, fragte sie.
    Vesper sagte es ihr.
    »Greta ist eingeschlafen. Alle Kinder sind eingeschlafen, schon wieder.« Helle Panik loderte schrill in Idas Stimme. »Im Fernsehen haben sie gesagt, dass es überall passiert ist. Die Kinder sind einfach eingeschlafen. Weißt du, bei den letzten beiden Malen, da waren es nur fünf Minuten, aber dieses Mal dauert es schon weit über eine Stunde. Vesper, was soll ich denn nur tun?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Vesper, denn dies war immerhin die Wahrheit. Sie sah Greta vor sich, mit ihrem Lächeln, ihren Zöpfen. Dem Kinderlächeln und den kecken Antworten.
    »Sie wacht einfach nicht mehr auf. Sie schläft und …« Der Rest ging in einem hemmungslosen Schluchzen unter.

    »Ida?«
    »Tut mir leid, ich melde mich später wieder.«
    Mit erstickter Stimme flüsterte Vesper: »Okay.« Dann starrte sie das rote Telefon in ihrer Hand an. Und begann leise zu weinen.
     
     
     
    Leander kehrte erst zurück, als sie sich die Tränen aus den Augen und dem Gesicht gewischt hatte.
    Vesper ließ ihn ein, nachdem er dreimal geklopft hatte.
    »Alles in Ordnung?«
    Er sieht, dass ich geheult habe, dachte Vesper nur, und irgendwie war ihr das peinlich.
    Sie schluckte, schüttelte den Kopf.
    »Drüben reden die Leute von nichts anderem mehr«, erklärte er ernst.
    Sie nickte, deutete auf die Plastiktüten in seiner Hand.
    »Oh, das Essen«, sagte er bemüht fröhlich und stellte die Tüten auf dem Tisch ab, der am Boden festgeschraubt war. »Schönes Hemd«, bemerkte er beiläufig. »Feine Socken.«
    »Was gibt es?«, fragte Vesper und fühlte sich irgendwie ertappt.
    Leander packte überschwänglich die Plastiktüten aus. »Finkenwerder Scholle direkt vom Hafen. Dazu Salat, sehr gesund. Und Salzkartoffeln.« Er zwinkerte ihr zu. »Zur Beruhigung der Seele dann noch etwas Süßes: zwei Franzbrötchen mit Schokolade und Rosinen. Ach ja, und ein Kopenhagener. Nur für dich.«

    Zum ersten Mal seit Stunden breitete sich ein Strahlen auf Vespers Gesicht aus. Es war nicht richtig glücklich, aber auch nicht unglücklich. Es war einfach da und sah so aus, wie sie sich fühlte.
    Leander, der ein Strahlen erkannte, wenn er es sah, auch wenn es dezent und still daherkam, verkündete: »Und dazu gibt es noch fritz-limo .« Er präsentierte die grün glänzende Flasche und grinste.
    Vesper lebte auf. »Hey, mit Melonenbrause, klasse.«
    Leander ließ sich in den Sessel am Fenster sinken. Dann fielen sie beide über das Essen her.
    Als sie fertig waren, sagte Vesper nur: »Danke.« Sonst nichts. Sie sah ihm an, dass er verstand, was sie meinte. Und sie war froh, dass nicht immer viele Worte nötig sind, um die Dinge sagen zu können, die man aufrichtig meint.
     
     
     
    Die Müdigkeit ergriff schnell Besitz von ihnen.
    Leander, der an der gegenüberliegenden Wand in seinem Kastenbett unter dem Laken verschwand, schaltete die Lampen aus; Vesper kroch in ihr Bett unter dem Fenster. Sie lag auf dem Rücken und betrachtete das dumpfe Licht der Stadt, das die Nacht am Hafen erhellte und unruhige Schatten an der Decke tanzen ließ. Draußen fiel noch immer der Schnee und verwandelte alles in ein Wintermärchen.
    »Ich hatte einmal eine Schwester«, sagte sie mit einem Mal, und die Stille wurde lauter. »Amalia, das war ihr Name.« Warum sie jetzt darüber reden wollte, konnte
sie nicht sagen. Aber Leander schien ihr der Richtige zu sein, um sich die Geschichte anzuhören. »Amalia.« Ihren Namen auszusprechen war bei Margo und Maxime tabu gewesen, all die Jahre lang. Jetzt war es wie ein Stück Magie, das sie sich bewahrt hatte. »Sie war diejenige, die mir die Märchen erzählt hat. Sie war da, als meine Eltern keine Zeit hatten. Und dann, eines Tages, hat sie sich das Leben genommen, einfach so. Keiner weiß, warum. Sie hat nur eine Nachricht hinterlassen. Es ist alles wahr. Mehr nicht.«
    »Warum erzählst du mir das?«
    »Vielleicht ist es wichtig.«
    »Für dich ist es wichtig.«
    »Ja.«
    »Du kannst es nicht vergessen.«
    Schweigen.
    Dann: »Nein.«
    Das Schwanken des Schiffes auf dem Wasser war der Rhythmus, der sie in den Schlaf wiegte.
    »Hast du eine Geschichte für mich?«, fragte Vesper.
    »Eine Gutenachtgeschichte?«
    »Es kann auch eine wahre Geschichte sein.«
    »Ja, vielleicht habe ich eine

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