Grimm - Roman
Die Takelage der schönen Rickmer Rickmers schob sich in den trüben Himmel. Zu ihrer Linken, drüben an der Überseebrücke am Niederhafen, deutete Leander auf ein Schiff.
»Das ist es«, verkündete er.
Vesper kannte sich hier aus. »Du hast ein Zimmer auf der Cap San Diego ?«
»Eine Kabine. Ja.«
Die Cap San Diego , die keine zweihundert Meter von hier vor Anker lag, war ein ausgemustertes Frachtschiff, das früher, zu seiner Zeit, zwischen Hamburg und Südamerika gefahren war. Die unzähligen Ladebäume und Bordkräne
ragten wie ein Wald aus dem langen, hohen Rumpf empor. Sie diente als Museumsschiff und schwimmendes Hotel zugleich.
»Die erste schöne Überraschung des Tages«, bekannte Vesper und sah sogar ein wenig glücklich aus.
Sie mochte Schiffe.
Schnellen Schrittes gingen beide die Promenade entlang. Die Passanten und Touristen wirkten an diesem Abend seltsam aufgeregt und hektisch. Allseits war eine ansteckende Unruhe zu spüren.
»Fällt dir etwas auf?«, fragte Leander.
Sie betrachtete die vertraute Gegend. Die Kioske, die Souvenirläden. Es war fast sechs Uhr abends.
Dann bemerkte sie es. »Es sind keine Kinder zu sehen.« »Genau.«
Sie schaute sich um. Mit einem Mal kam dieses dumpfe Gefühl der Angst zurück. »Glaubst du, dass es wieder passiert ist?« Keine Kinder, wohin man auch sah.
Vesper griff nach ihrem Telefon und rief Ida an.
»Was machst du?«, wollte Leander wissen.
»Bei meiner Freundin nachhören, Ida Veidt. Sie hat eine kleine Tochter.« Nervös betrachtete sie das Display, dann legte sie auf. »Es geht niemand ran«, stellte sie besorgt fest. Die Luft über der Stadt schien mit einem Mal eine andere zu sein. Die Bedrohung war wie ein Geruch, der einem in die Nase stach.
»Komm!« Er ergriff ihre Hand, einfach so, ließ sie nicht wieder los.
Und sie ließ es geschehen.
Sie legten den Rest des Weges mit einem unguten Gefühl zurück.
Vesper schaute sich wachsam nach einem Verfolger um, konnte jedoch niemanden entdecken.
Sie fragte sich, warum der Fremde sein Äffchen im Wagen zurückgelassen hatte. Sie dachte an die Kinder, und schon war auch das Gefühl der Verlorenheit wieder da, übermächtig wie gestern, als sie aus der Villa ihrer Mutter geflohen war. Sie fragte sich sogar, was ihre Mitschüler dachten, wenn sie die Nachrichten schauten, fragte sich, ob sie unter all der Schminke und aufgetragenen Coolness ebenfalls so ängstlich waren wie sie selbst. Sie dachte, zum ersten Mal seit gestern, an Julia und Saskia, die sie im Fackelholz genervt hatten. Julia hatte einen kleinen Bruder und Saskia eine ältere Schwester, die vor wenigen Monaten ein Kind zur Welt gebracht hatte. Einige in der Klasse hatten sich darüber lustig gemacht, dass sie jetzt schon eine richtige Tante war. Vesper dachte an ihre Englischlehrerin, die auch ein kleines Kind hatte, an viele andere, um die sie sich nie Gedanken gemacht hatte. Sie alle waren jetzt irgendwo und hatten Angst.
»Was hast du?«
Sie schluckte. Hätte sich am liebsten an ihn geklammert. »Lauter unschöne Gedanken.«
»Unschön?«
Sie nickte nur. So verdammt viele Fragen, so wenige Antworten. »Ich habe Angst.« Der kalte Wind wehte ihr ins Gesicht und berührte sie wie der Tod im Traum.
Leander stand vor ihr und strich ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht. »Du bist nicht allein.« Das war alles, was er sagte. Mit einem Lächeln und Zuversicht in der Stimme. Einfach so.
Du bist nicht allein.
War das nicht alles, was es zu sagen gab?
Du bist nicht allein.
Sie sah ihn an, sonst nichts. Lächelte. Und dann war der Augenblick vorüber, ohne dass etwas passiert war. Ein Lächeln, vier Worte, sonst nichts.
Er zwinkerte ihr zu.
Griff in seine Manteltasche. »Apfel?«, fragte er.
Sie musste einfach lachen. »Du und deine Äpfel«, sagte sie.
Er hielt ihr den Apfel vors Gesicht. »Die sind lecker.«
Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und biss schnell ein Stück Apfel ab. Leander ließ sie dabei nicht aus den Augen.
»Und?«
»Ist lecker.«
Du bist nicht allein. Das war es, was sie in diesem Moment dachte.
Leander nickte zufrieden, biss ebenfalls in den Apfel und sagte: »Okay, dann weiter.« Als wäre nichts gewesen. Er lief voran, und sie hetzte ihm hinterher, als würde ihr ganzes Leben seit wenigen Stunden nur noch aus schnellem Laufen und hastigem Weglaufen bestehen.
Du bist nicht allein.
Genau so was hatte sie von ihm hören wollen. Und er hatte es gesagt. Vesper ahnte, dass die Nacht dort, wo
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