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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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das erste Mal in meinem Leben, dass ich dieses Geräusch hörte.« Vesper war es, als höre sie die Tränen in seiner Stimme klingen, wie winzige Glöckchen, dumpf und erstickt. »Es war ein Heulen wie die Angst vor der Nacht, die jedes Kind kennt.«
    Es war rau, drang aus vielen Kehlen. Es schwebte durch den dichten Schnee und suchte sich seinen Weg.
    Was war das?, fragte Alexander.
    Weiß nicht.
    Klang wie Wölfe.
    Es gibt keine Wölfe in der Stadt, sagte Leander altklug.
    In eben diesem Augenblick erklang es erneut.
    Das sind Wölfe, jammerte der Kleine. Furcht zerschnitt sein Lächeln schnell in Fetzen nagender Verzweiflung.
    Und Leander war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, was dieses Geräusch noch anderes sein konnte als Wolfsgeheul. Er dachte an die Zeichnungen in den Büchern, die daheim in ihrem Zimmer mit dem Etagenbett standen.
    Wir sollten rasch nach Hause gehen, schlug er vor.
    Beide sahen sie sich furchtsam um.
    Was ihnen vorher noch nicht bewusst gewesen war, wurde nun zu einer schmerzhaften Gewissheit: sie waren ganz allein hier draußen. Niemand wusste, wo sie waren. Nicht einmal ihren Eltern hatten sie es gesagt. Niemand würde nach ihnen suchen, wenn …
    Das Heulen war wie der Wind, nur schlimmer.
    »Dann sahen wir sie.« Seine Stimme klang wie Eis, das bald brechen wird.

    Wölfe.
    Viele.
    Sie waren groß und hager, und zottiges Fell machte sie dunkel wie ein böser Traum in der tiefsten Nacht.
    Sie standen bei dem Spielplatz, trabten um die Schaukel und die Rutsche herum, steckten ihre langen Schnauzen in den Schnee, zogen die Lefzen hoch und entblößten ihre spitzen Zähne.
    »Es waren sechs Wölfe«, erinnerte sich Leander.
    Vesper schauderte.
    »Sie kamen langsam auf uns zu.«
    Lauf!, rief Leander seinem kleinen Bruder zu.
    Und Alexander ließ sich das nicht zweimal sagen.
    Sie rannten beide auf den hohen Zaun zu, und Leander ahnte, dass sie es nicht schaffen würden. Dabei war er doch für seinen Bruder verantwortlich. Alexander hatte sich sein ganzes Leben lang auf ihn verlassen können. Niemals war ihm etwas zugestoßen, solange Leander in der Nähe gewesen war. Sie waren Brüder, die nichts trennen konnte, so hatten sie einander immer selbst gesehen. Naiv und gutgläubig, wie Kinder eben sind.
    Und nun? Die Wölfe hinter ihnen kamen mit ruhigen Schritten näher und näher.
    Alexander hatte zu weinen begonnen, und auch Leander war kurz davor, die Fassung zu verlieren.
    »Ich half Alexander über den Zaun.«
    Er machte eine Räuberleiter, während hinter ihnen die Bestien lauerten, und als Alexander endlich auf seinen Händen stand, da warf er ihn mit Schwung himmelwärts.
Der Junge hielt sich oben am Zaun fest, kletterte hinüber, kam auf der anderen Seite auf beiden Füßen auf. Er lächelte und sagte: Jetzt du, schnell!
    »Doch ich rührte mich nicht.«
    Denn das, was Leander sah, war schrecklicher als alles, was er in Träumen je erlebt hatte.
    »Sie waren bereits bei ihm.«
    Drüben, auf der anderen Seite des hohen Zaunes, da, wo Alexander jetzt war, erschienen zehn weitere Wölfe. Sie kamen hinter den Mülltonnen hervor, trabten aus den Straßen heran, krochen unter den parkenden Autos hervor, traten aus ihren Verstecken in den Hecken heraus. Es waren große Tiere mit struppigem Fell und glühenden Augen.
    »Sie sahen unecht aus. Aber echt genug, dass wir Kinder an sie glaubten.«
    Vesper setzte sich im Bett auf und lauschte.
    »Alexander schrie panisch auf.«
    Leander wusste nicht, was er tun sollte.
    »Er schrie meinen Namen, immer und immer wieder.«
    Doch Leander konnte nichts tun.
    Sein kleiner Bruder stand ganz allein auf der anderen Seite des Zaunes. Die Handschuhe waren oben am Zaun hängen geblieben, als er hinübergeklettert war. Jetzt legte er seine Hand an den Zaun, griff durch die Maschen hindurch mit den Fingern, und Leander berührte sie.
    Irgendwie wussten sie beide, dass diese Berührung das Letzte war, was ihnen voneinander bleiben würde.

    Alexander schrie und weinte vor Angst, als sich die Wolfsschemen näherten.
    »Sie sahen wie echte Wölfe aus, nicht so unscharf wie die Wesen, die uns in Blankenese gejagt haben.«
    Die Wölfe kamen auf ihn zu und knurrten.
    Leander wollte über den Zaun klettern, um seinem Bruder zu helfen, doch die Wölfe auf dem Schulhof fielen ihn an, als er es versuchte. Ihre Zähne bohrten sich in seine Jacke und seine Hose, zerrten an dem Stoff und hinderten ihn daran, den Zaun hinaufzuklettern.
    Leander trat nach ihnen, wild und

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