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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Geschichte für dich.« Er zögerte, wenn auch nur kurz. »Es waren einmal zwei Brüder«, begann er, und die Risse in seiner Stimme waren tiefer als noch vorhin. »Sie lebten beide wohlbehütet in einem kleinen Dorf in den Wäldern.«
    Der eine Bruder, der nur zwei Jahre älter war, zeigte dem jüngeren Bruder all das, was er wusste. Eines Tages
schenkte er ihm ein kleines rotes Taschenmesser, mit dem man schnitzen und vielerlei Dinge mehr tun konnte. Der jüngere Bruder hütete das Taschenmesser wie einen Schatz, denn er wusste, wie wertvoll es ihm war.
    »Doch dann«, erinnerte sich Leander, »verlor er es.«
    Er wusste nicht einmal, wie es geschehen war. Vermutlich war es nur eine dumme Unachtsamkeit gewesen, kaum mehr. Es passierte, wie Dinge nun einmal passieren. Er war zur Schule gegangen und hatte mit seinen Freunden auf dem Schulhof herumgetollt. Das Messer war ihm wohl aus der Tasche gefallen, das war alles.
    »Der jüngere Bruder war untröstlich.«
    Es war ein Wintertag.
    »Wie heute.«
    Der Schnee fiel in dichten Flocken und verschlang sämtliche Geräusche. Die Welt schien den Atem anzuhalten, jedermann spürte es, doch niemand wusste es; niemand wusste, was anders war als sonst. Niemand ahnte, was heimlich und böse im Verborgenen lauerte.
    Der jüngere Bruder erzählte daheim von dem Unglück, und der ältere Bruder hörte ihm zu. Und wie es die Eigenart größerer Brüder ist, auch diesmal hatte er einen Rat.
    Im Dämmerlicht der Schiffskabine konnte Vesper das Unheil fast greifen.
    »Die beiden Brüder - nennen wir sie Leander und Alexander - gingen also zur Schule, um das Taschenmesser zu suchen.«
    Nun trug es sich aber zu, dass Alexander das rote Taschenmesser an einem Freitagmittag verloren hatte. Das
Wochenende abzuwarten, hielt keiner der beiden Brüder für eine gute Idee. Also fassten sie sich ein Herz und gingen heimlich am nächsten Morgen, noch bevor die Eltern erwachten, in aller Frühe zur Schule, um das Messer zu finden.
    Der Weg dorthin führte sie durch lange Straßen voller hoher und dunkler Häuser mit spitzen Dächern und schrägen Kaminen. An manchen dieser Häuser sahen sie Wasserspeier, hoch oben, steinerne Köpfe mit seltsamen Fratzen und langen Klauen.
    Alexander hatte sich schon immer vor diesen Gestalten gefürchtet. Sie sahen so echt aus, obwohl sie nur aus Stein gehauen waren.
    »Doch Leander nahm ihn bei der Hand.«
    Vesper fand, dass sich das genauso anhörte wie der immer wiederkehrende Satz in einem Märchen, das ein gutes Ende hatte. Doch sie ahnte, dass dieser Satz in dieser Geschichte nur einmal vorkommen würde. »Wie alt war Alexander denn damals?«, fragte sie.
    »Neun Jahre.«
    »Und Leander?«
    »Schon elf.« Er lächelte müde. »Für Leander war das Leben wie ein Spiel, und weil sein Bruder ihm alles nachmachte, war es das auch für Alexander.«
    »Was passierte dann?«
    »Leander ging mit seinem jüngeren Bruder zur Schule.«
    Leer und karg lag das riesige Grundstück da. Das eckige graue Schulgebäude mit den langgezogenen hohen Fenstern und Betonsäulen dazwischen sah aus wie etwas, was
im Dämmerlicht ruhte. Schnee wehte über den Schulhof, der einsam und verlassen dalag. Kein Geräusch erklang, alles war ruhig. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Nicht einmal der mürrische Hausmeister trieb sich um diese Uhrzeit hier draußen herum.
    Ein hoher Zaun aus Maschendraht umgab das Gelände. Hoch, aber niemals hoch genug.
    »Leander half seinem kleinen Bruder über den Zaun.«
    Denn der Zaun war gerade einmal so hoch, dass Grundschüler ihn nicht allein bezwingen konnten. Doch gemeinsam schafften sie es, denn gemeinsam hatten sie bisher noch alles geschafft.
    Die Hände in Fäustlinge gesteckt, wateten sie durch den neu gefallenen Schnee auf dem Schulhof. Wirklich überall schauten sie nach.
    Der Schnee erschwerte ihnen die Suche.
    Die Brüder suchten an den unterschiedlichsten Stellen auf dem Schulhof, und schließlich fand Alexander sein Taschenmesser. Es lag unter einer der steinernen Tischtennisplatten, die so klobig und grau aussahen. Alexander schrie vor Freude laut auf, ein Siegeslaut, gellend und überschwänglich, hineingeschmettert in die Stille dieses farblos kalten und menschenleeren Samstagvormittags.
    »Er sah so verdammt glücklich aus«, erinnerte sich Leander, und das Mondlicht streifte sanft sein Gesicht.
    Sie kamen sich vor wie die Sieger des Tages. Gemeinsam hatten sie es geschafft.
    Doch dann erklang das Heulen.

    »Es war

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