Grimms Erben
so dass sich den jungen Buben die weiblichen Üppigkeiten saftig entgegenwölbten, im Sinne: »Doppelt guten Tag.«
Ebenso beeindruckend Herr Blümls die lockere Metzgerhose beulende Erektion. Wie ein mahnender Zeigefinger marschierte sie dem Mann voran – aber wer konnte ihr dies verdenken, die saftigen Brüste von Frau Münzinger brachten männliche Kunden regelmäßig ins Stottern. Statt Mettwurst wurden Melonen, statt Burenwürste Busenwürste geordert. So was.
Doch nur dem Metzgermeister war es vergönnt, sich mit diesen weiblichen Kanonenkugeln zu duellieren. Frau Blüml ahnte nichts von diesen lustvollen Kriegsspielen. Sie stach brav im kleinen Schlachthaus den Säuen die scharfen Messer in die Kehle, während Herr Blüml scharf seinen … ach, Sie wissen schon.
»Saububen! Verreckte!« Der hochrot vibrierende Kopf des Metzgermeisters stand kurz vorm Explodieren, ob vor Ärger, weil Buben auf seinem Dach Streiche spielten, oder deswegen, weil sein Tête-à-Tête gestört wurde – ungewiss.
Ignaz wurde durch die wuchtige Ohrfeige vom Dach gefegt und schlug drei Meter tiefer unkontrolliert auf, wo ihn sein fluchtbegabterer Bruder in Empfang nahm und aus der weiteren Gefahrenzone schleppte. Aki hatte nämlich den Besitzer durch die Luke kommen sehen, flott genug den Rückzug angetreten. Zu Hause klärte Ignaz seinen Bruder Aki über die genaueren Umstände seines Abgangs auf.
»Die Schellen war’s wert«, beteuerte Ignaz noch lange danach. »Das was ich gesehen habe, das träumst du bloß. So schnell, wie du das Weite gesucht hast.«
Aber schmerzhaft war nicht die Ohrfeige, sondern der gemeine Aufprall auf das Steißbein, das noch wochenlang seine Lädierung in Form von Sitzschmerzen preisgab, so dass ihm keine Wurst mehr schmecken mochte.
Diesmal landete Ignaz aus ähnlicher Höhe, aber auf seinen Beinen. Er blutete. Stacheldraht, Hundegebiss und Gewehrkugel hatten Spuren hinterlassen, aber die ärgste Verletzung brachte ihm sein Bleistift bei, der sich bei der Landung in seine Leiste bohrte. Warum hatte er ihn diesmal nicht in den Sack zurückgesteckt? Der Stift ließ sich mit einer ruckartiger Bewegung leicht aus dem Oberschenkel entfernen. Es blieb ein Schmerz, der ihn beinahe ohnmächtig werden ließ.
Er hörte nichts mehr. Kein über die Mauer erklingendes Bellen, kein Rumoren. Weder Rufe des Zorns noch gedämpfte Straßengeräusche einer davoneilenden Jägerschar. Es war, als hätte jemand den Ton abgestellt. Eine Stille, die ein rhythmisch monotones Rauschen durch Ignaz’Ohren schickte. Das vernahm er. Seinen Herzschlag und seinen Atem, sonst nichts.
Den Sack mit seinen Heiligtümern konnte er nach wenigen Versuchen ertasten. Alles noch da. Weiter. Wie dunkler Anstrich presste sich Ignaz Buchmann von Hauswand zu Hauswand. Kein Licht stach aus irgendeinem Fenster oder anderen Hausöffnungen. Stille und Dunkelheit schlichen an Ignaz’ Seite. Weggefährten der Nacht, die ihn auf dieser Seite der Mauer beinahe unsichtbar machten.
Durch die Löcher seiner Filzhose pfiff leise der laue Nachtwind und trocknete die Risswunden seiner Haut. Er taumelte, doch Schmerzen verspürte er kaum noch, die Lunge stach leicht, aber die Erleichterung über die geglückte Flucht legte sich wie Balsam über seine körperlichen Blessuren. Auch die Bleistiftwunde pochte schon weniger. Er wurde ruhiger. Ignaz Buchmann erholte sich vom Wettrennen gegen die blutrünstige Meute aus Mensch und Hund. Und ging als Sieger hervor.
Ignaz Buchmann war Autor. Jungautor. Zum Verständnis: Er konnte bisher keine offiziellen Veröffentlichungen vorweisen. Er verfasste in seinem jugendlichen Drang mehr Schriften, als sein Vater ihm Ohrfeigen für seine teilweise untragbaren Streiche verpasst hatte. Er übertrug Realität in Fiktion. Transformierte selbstgetätigte Handlungen und eigene Erlebnisse in seine Phantasiegebilde und fühlte sich dabei ungezwungen und auf eine besondere Weise lebendig. Und ein wenig erwachsener, als er war. Schon sehr früh las er den Nachbarkindern, und mit Vorliebe der rußhaarigen Klara, die auf dem Bauernhof gegenüber wohnte, vor. Nicht aus Büchern renommierter Schriftsteller – nein – selbstverfasste Geschichten. Wundersame Märchen, die er sich zusammenspann und mit denen er große Augen, offene Münder und Aufmerksamkeit erntete. An guten und an schlechten Tagen. Die Geschichten entstanden auf Zetteln, über die er seine kindliche Schrift jagte. Bisweilen versammelten sich zwanzig, dreißig
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