Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
Schränken, die Truhen waren mit Gold und Edelsteinen angefüllt, und es hatte keinen Wunsch, den es nicht erfüllen konnte. Bald ging der Ruf von der Schönheit und dem Reichtum des Mädchens durch die ganze Welt. Alle Tage meldeten sich Freier, aber keiner gefiel ihr. Endlich kam auch der Sohn eines Königs, der ihr Herz zu rühren wußte, und sie verlobte sich mit ihm. In dem Schloßgarten stand eine grüne Linde, darunter saßen sie eines Tages vertraulich zusammen, da sagte er zu ihr: »Ich will heimziehen und die Einwilligung meines Vaters zu unserer Vermählung holen; ich bitte dich, harre mein hier unter dieser Linde, in wenigen Stunden bin ich wieder zurück.«
Das Mädchen küßte ihn auf den linken Backen und sprach: »Bleib mir treu und laß dich von keiner andern auf diesen Backen küssen. Ich will hier unter der Linde warten, bis du wieder zurückkommst.«
Das Mädchen blieb unter der Linde sitzen, bis die Sonne unterging; aber er kam nicht wieder zurück. Sie saß drei Tage von Morgen bis Abend und erwartete ihn, aber vergeblich. Als er am vierten Tag noch nicht da war, so sagte sie: »Gewiß ist ihm ein Unglück begegnet, ich will ausgehen und ihn suchen und nicht eher wiederkommen, als bis ich ihn gefunden habe.«
Sie packte drei von ihren schönsten Kleidern zusammen, eins mit glänzenden Sternen gestickt, das zweite mit silbernen Monden, das dritte mit goldenen Sonnen, band eine Handvoll Edelsteine in ihr Tuch und machte sich auf. Sie fragte allerorten nach ihrem Bräutigam; aber niemand hatte ihn gesehen, niemand wußte von ihm. Weit und breit wanderte sie durch die Welt, aber sie fand ihn nicht. Endlich vermietete sie sich bei einem Bauer als Hirtin und vergrub ihre Kleider und Edelsteine unter einem Stein.
Nun lebte sie als eine Hirtin, hütete ihre Herde, war traurig und voll Sehnsucht nach ihrem Geliebten. Sie hatte ein Kälbchen, das gewöhnte sie an sich, fütterte es aus der Hand, und wenn sie sprach:
»Kälbchen, Kälbchen, knie nieder,
Vergiß nicht deine Hirtin wieder,
Wie der Königssohn die Braut vergaß,
Die unter der grünen Linde saß«,
so kniete das Kälbchen nieder und ward von ihr gestreichelt.
Als sie ein paar Jahre einsam und kummervoll gelebt hatte, so verbreitete sich im Lande das Gerücht, daß die Tochter des Königs ihre Hochzeit feiern wollte. Der Weg nach der Stadt ging an dem Dorf vorbei, wo das Mädchen wohnte, und es trug sich zu, als sie einmal ihre Herde austrieb, daß der Bräutigam vorüberzog. Er saß stolz auf seinem Pferd und sah sie nicht an; aber als sie ihn ansah, so erkannte sie ihren Liebsten. Es war, als ob ihr ein scharfes Messer in das Herz schnitte. »Ach«, sagte sie, »ich glaubte, er wäre mir treu geblieben; aber er hat mich vergessen.«
Am andern Tag kam er wieder des Wegs. Als er in ihrer Nähe war, sprach sie zum Kälbchen:
»Kälbchen, Kälbchen, knie nieder,
Vergiß nicht deine Hirtin wieder,
Wie der Königssohn die Braut vergaß,
Die unter der grünen Linde saß.«
Als er die Stimme vernahm, blickte er herab und hielt sein Pferd an. Er schaute der Hirtin ins Gesicht, hielt dann die Hand vor die Augen, als wollte er sich auf etwas besinnen; aber schnell ritt er weiter und war bald verschwunden. »Ach«, sagte sie, »er kennt mich nicht mehr«, und ihre Trauer ward immer größer.
Bald darauf sollte an dem Hofe des Königs drei Tage lang ein großes Fest gefeiert werden, und das ganze Land ward dazu eingeladen. Nun will ich das Letzte versuchen, dachte das Mädchen, und als der Abend kam, ging es zu dem Stein, unter dem es seine Schätze vergraben hatte. Sie holte das Kleid mit den goldenen Sonnen hervor, legte es an und schmückte sich mit den Edelsteinen. Ihre Haare, die sie unter einem Tuch verborgen hatte, band sie auf, und sie fielen in langen Locken an ihr herab. So ging sie nach der Stadt und ward in der Dunkelheit von niemand bemerkt. Als sie in den hell erleuchteten Saal trat, wichen alle voll Verwunderung zurück; aber niemand wußte, wer sie war. Der Königssohn ging ihr entgegen, doch er erkannte sie nicht. Er führte sie zum Tanz und war so entzückt über ihre Schönheit, daß er an die andere Braut gar nicht mehr dachte. Als das Fest vorüber war, verschwand sie im Gedränge und eilte vor Tagesanbruch in das Dorf, wo sie ihr Hirtenkleid wieder anlegte.
Am andern Abend nahm sie das Kleid mit den silbernen Monden heraus und steckte einen Halbmond von Edelsteinen in ihre
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