Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Mal um. Dafür war er viel zu sehr in die Beobachtung der vielen Pilgerkarawanen vertieft, die den beginnenden Sommer nutzten. Es wehte eine laue Brise, wenn auch aus Richtung Norden, und der wolkenlose Himmel war mit Sternen übersät.
Immer wieder setzte Grimpow sie in Gedanken am dunklen Firmament zu zahllosen Wegen zusammen, genau wie die Sternbilder von ihrer Karte. Über ihren Köpfen im Norden erkannte er die Sternbilder der Kassiopeia und des Kleinen Bären und darunter den langen Schwanz des Drachen und den Großen Bären, im Süden die Jungfrau mit dem Stern Spica und darunter die Sternbilder Waage, Skorpion und Kentaur und im Osten die Zwillinge, den Krebs und die Nördliche Wasserschlange.
Das Abendessen nahmen sie in einer Pilgerherberge mehrere Meilen außerhalb von Paris ein, wo sie sich auch ein paar Stunden im Schlafsaal ausruhten. Im ersten Morgengrauen waren sie aber schon wieder unterwegs. Chartres war noch einen Tagesritt entfernt und sie wollten die Kathedrale vor Einbruch der Dunkelheit erreichen, um nicht vor verschlossenen Türen zu stehen.
Es fiel ihnen nach wie vor schwer, sich den wunderkräftigen Gegenstand vorzustellen, von dem in Aidor Bilbicums Handschrift die Rede war. Einig waren sich die drei nur darüber, dass es nicht der sagenhafte heilige Gral und auch nicht die Bundeslade oder irgendein Schriftstück über die antiken Götter oder Religionen war. Doch was in aller Welt konnte es dann sein? War es ein riesiger Goldschatz, waren es Schmuck und Edelsteine aus den fremden Ländern des Orients, deren Besitzer der reichste Mensch der Welt sein würde? Oder handelte es sich vielleicht um eine ungeheure Waffe, um die sich viele Legenden rankten, weil sich der mächtigste und gefürchtetste Feind mit ihr bezwingen ließ?
Über diese und andere Fragen zerbrachen sich Grimpow, Weynelle und Salietti den Kopf, auch wenn keiner von ihnen sie laut aussprach. Sie fragten sich sogar, was sein würde, wenn sie erst das Geheimnis der Weisen enthüllt hatten und wie sie es anschließend mit nach Florenz nehmen und dort erneut verstecken konnten.
Grimpow war inzwischen wieder zuversichdicher, denn im Verlauf seiner langen Reise hatte er gelernt, dass sich für alles eine Erklärung findet, wenn man erst den passenden Schlüssel dazu hat. Dennoch machte er sich nach dem vielen Glück und Unglück, das ihm in seinem kurzen Leben schon widerfahren war, darauf gefasst, die Säulen des Übergangs aus irgendeinem Grund nicht zu durchschreiten und das Labyrinth nicht betreten zu können. Alles bliebe dann ein Hirngespinst, das dazu gedient hätte, die Wissbegier und die Ruhelosigkeit des Lernens zu wecken, als wäre die Suche nach dem Geheimnis der Weisen am Ende nichts anderes als die Suche nach sich selbst, die Suche nach dem innersten Wesen der Menschen im verwirrenden Labyrinth ihres Lebens - eine Suche, welche die Blume der Weisheit in sein Herz gesät hatte wie ein fruchtbares Samenkorn.
Gleichzeitig beschäftigte Grimpow der Gedanke, dass schon zweihundert Jahre vergangen waren, seit Aidor Bilbicum und die ersten Weisen des Ouroboros-Bundes ihr Geheimnis versteckt hatten. In der Zwischenzeit konnte sich alles Mögliche zugetragen haben, ohne dass sie es ahnten. Über die Jahrhunderte hinweg konnte sich der Lauf der Geschichte ebenso unerwartet verändern wie ein Flusslauf unter Einwirkung der Natur. Daher hielt er es auch für möglich, dass die Weisen des Ouroboros-Geheimbundes das Geheimnis zunächst sorgfältig versteckt hatten, ihm aber später einen anderen Platz zugedacht oder es zerstört hatten. Vielleicht war das ganze Geheimnis der Weisen aber auch nichts anderes als eine Legende, wie sie die Alten den Jungen in kalten Winternächten am Feuer erzählten oder wie sie die Troubadoure in ihren Epen und Romanzen besangen.
Die anmutigen Spitztürme der Kirchen und der Kathedrale von Chartres ragten am Horizont in den rot glühenden Abendhimmel, der die ausgedehnten Weizenfelder um sie herum mit einem goldenen Schimmer übergoss.
Trotz der Jahreszeit und obwohl unzählige Pilger unterwegs waren, strahlte die Stadt an jenem Spätnachmittag eine ungewöhnliche Ruhe aus, die den Absichten der drei Reiter zupasskam. Sie ritten auf einem gepflasterten Weg durch mehrere kleine Gehölze darauf zu, mit Blick auf den ruhigen Fluss und die vielen Mühlen, deren Flügel sich am Ufer drehten, auf Gerbereien, Holzbrücken und Waschplätze, deren Hütten unter den Ulmen verstreut lagen, auf Häuser,
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