Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Kirchen und die majestätische Kathedrale, die wie ein steinerner Koloss über der Stadt thronte.
Sie erreichten den Marktplatz mit der Kathedrale über ein kleines Stadtviertel mit malerischen Fachwerkhäusern, wo sie bald einen Stall für ihre Pferde fanden, damit diese fressen und sich von dem langen, ermüdenden Ritt erholen konnten. Der Stallknecht nahm sich wortlos ihrer Tiere an, denn er war von Geburt an taubstumm und verständigte sich nur mit Gebärden und Kehllauten. Sein Lächeln wurde noch breiter, als er in seiner Hand die Goldbohne erblickte, die ihm der Ritter gerade hineingedrückt hatte.
Als sie vor dem Hauptportal ankamen, mussten sie überrascht feststellen, dass die Tore geschlossen waren. Sie hielten nach jemandem Ausschau, der ihnen erklären konnte, was das mitten im Frühjahr zu bedeuten hatte, als ein Greis mit üppigem Bartwuchs ihren Weg kreuzte. Salietti befragte ihn, und sie erfuhren, dass ganz Chartres gerade ein Fest zu Ehren eines Heiligen feierte. Alle Einwohner vergnügten sich bis zum Morgengrauen vor den Stadttoren. Sie hatten am anderen Flussufer unter den Pappeln Lagerfeuer entzündet und ergingen sich im Festschmaus mit Trinkgelagen, Musik, Tanz und Rummel. Aber er sagte ihnen auch, dass das Nordtor der Kathedrale, das sogenannte Tor der Eingeweihten, offen stehe.
Diese Bezeichnung ließ Grimpow aufmerken und er fragte den Greis geradeheraus: »Wieso hat das Tor solch einen seltsamen Namen?« Dabei tat er, als wüsste er nicht, wer die Eingeweihten waren.
»Jenes Tor ist seit jeher den Zünften der Baumeister, Maurer und Steinmetze vorbehalten. Es darf niemals verschlossen sein, selbst wenn die Kathedrale leer ist«, erklärte ihnen der Greis und verabschiedete sich mit einer Verneigung, um seinen Weg zum Fluss fortzusetzen.
Grimpow verspürte einen seltsamen Drang, sich diesem steinernen Bauwerk ganz unbefangen zu nähern, als befände er sich nicht zum ersten Mal an diesem Ort oder hätte ihn schon oftmals im Traum gesehen, sodass ihm alle Symbole und Geheimnisse darin wohlvertraut wären. Doch ihr tatsächlicher Anblick ließ seine Vorstellungen wie wirre Traumfetzen verblassen.
Während sich Weynelle und Salietti über ihre Zukunft in der wohlhabenden italienischen Republik Florenz unterhielten, näherte sich Grimpow der Kathedrale und besah sich die Steinbildnisse zu beiden Seiten des mächtigen Eingangsportals an der Westseite. Zur Linken entdeckte er die Figuren zweier Männer und einer Frau auf Sockeln und zur Rechten die ebenfalls aufrechten Gestalten dreier Männer und einer Frau. Jeder von ihnen hielt ein dickes Buch in der Hand und einige außerdem eine Pergamentrolle. Als Grimpow die Figuren betrachtete, zweifelte er keinen Augenblick daran, dass es sich um eine Darstellung der Weisen des Ouroboros-Bundes handelte, die mit den Büchern - der einzigen Waffe der Weisheit - den Eingang der Kathedrale bewachten, in der das Geheimnis der Weisen verborgen lag.
»Lasst uns um die Kathedrale herumgehen und das Nordtor suchen. Dort dürften auch die Säulen des Übergangs sein«, schlug Salietti vor. Er war wild entschlossen, das Geheimnis der Weisen oder was auch immer an diesem Ort verborgen sein mochte, so bald wie möglich zu finden und dafür die Zeit zu nutzen, während die Stadt wie ausgestorben dalag.
Sie gingen um die Kathedrale herum zum Südtor und betrachteten das großartige Bauwerk dabei in allen Einzelheiten. Die Kirche wirkte tatsächlich wie ein Werk der Götter, wo der Stein seine eigene Sprache sprach, wie ihnen der Einsiedler seinerzeit verheißen hatte. Eine in die Ausdrucksformen der Kunst und der menschlichen Vorstellungskraft übersetzte Sprache, dazu imstande, die erhabenste und unvergänglichste Schönheit zu erschaffen.
Kaum waren sie ein Stück gegangen, da entdeckten sie an einer Ecke, die mit der Fassade den gestuften Vorraum zum Südeingang bildete, eine kleine, halb im Boden verschwindende Treppe, die zu einem eisernen Tor führte.
»Hier muss die Krypta sein«, stellte Salietti fest. Er ging näher heran und rüttelte vergeblich an der verschlossenen Tür.
Grimpow musste sofort an die düstere, geheimnisumwitterte Krypta der Kirche von Cornille denken. Er wünschte inständig, dass sich die Säulen des Übergangs, die sie durchschreiten mussten, um ins Labyrinth zu gelangen, nicht ausgerechnet dort unten befanden, in jener unheimlichen, düsteren Gruft.
Als sie um die nächste Ecke bogen, standen sie an der Ostseite. Auf ihrem
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