Grimpow Das Geheimnis der Weisen
dem Verschwinden des Leichnams im Schnee berichtet, denkt der Dominikaner sicher, dein Freund wolle ihn an der Nase herumführen.«
»Aber das ist nun einmal wirklich geschehen!«, rief Grimpow aus.
»Und du meinst, das könnte jemand glauben?«
»Ihr habt es doch auch getan.«
»Das stimmt, aber Burumar de Gostelle würde niemals an das Verschwinden einer Leiche glauben, selbst wenn er es mit eigenen Augen gesehen hätte. Heute Morgen hat mir Bruder Arben beim Frühstück erzählt, dass er den Dominikanermönch vor einigen Jahren in Vienne in der Nähe von Lyon kennengelernt hat. Und gerade eben hat er mir in der Schreibstube gestanden, dass sich der Inquisitor als Späher für den französischen König unter die Tempelritter im Heiligen Land gemischt habe, um ihre Einweihungsriten und Geheimnisse in Erfahrung zu bringen. Anscheinend war Burumar de Gostelle einer der engsten Vertrauten des letzten Großmeisters, Jacques de Molay. Nach seiner Rückkehr nach Paris verriet er ihn und beschuldigte ihn der Ketzerei. Burumar de Gostelle trat damals als Inquisitor in den Dominikanerorden ein und widmete sich mit Leib und Seele der Verfolgung der Templer, die den Schergen des Königs von Frankreich entkommen waren. Viele von ihnen waren über die Grenze im Norden des Landes nach Deutschland geflohen und hatten in den Burgen des Steinkreises bei Herzog Ulf von Österberg und seinen Getreuen Zuflucht gefunden.«
Die neuen Tatsachen und Personen in Bruder Rinaldos Erzählung entfachten Grimpows Interesse. »Von diesen Burgen habe ich noch nie gehört«, sagte er.
»Ich habe sie zwar noch nie gesehen«, fuhr der alte Mönch fort, »aber soweit ich weiß, besteht der Steinkreis aus acht kleinen Burgen, die dicht beieinander auf den Gipfeln von felsigen, unzugänglichen Bergen erbaut wurden. Diese acht Burgen liegen wie auf einer vollkommenen Kreislinie um Herzog Ulf von Österbergs Festung herum, die sich wiederum auf einem uneinnehmbaren felsigen Tafelberg im Mittelpunkt des Kreises befindet...«
Bruder Rinaldo erklärte weiter, dass die kreisförmige Anordnung von Verteidigungsanlagen in Kriegszeiten rasche Hilfe von Burg zu Burg ermöglichte und feindliche Belagerungen ungemein erschwerte. Denn zu den schwierigen Verhältnissen auf dem bergigen Gelände, auf dem sie standen, kam der Umstand, dass ein Heer, das eine Burg belagerte, seinerseits von den übrigen Burgen sowie der Festung des Herzogs von Österberg umringt war und auf diese Weise dem eigenen Angriff zum Opfer fiel. Zu diesen komplexen Gegebenheiten kamen eine Vielzahl von Durchlässen in den Felsen und ein ausgeklügeltes Labyrinth von unterirdischen Tunneln und Stollen hinzu, welche die Burgen miteinander verbanden. Durch diese konnten die Belagerten den Angreifern entkommen und sie zum Narren halten, wie ein Kaninchen mithilfe der vielen Schlupflöcher in seinem Bau den Füchsen ein Schnippchen schlägt.
Zur kreisförmigen Anordnung der Burgen waren Herzog Ulf von Österbergs Vorfahren von einem großen Weisen angeregt worden, und zwar in einer Zeit häufiger Grenzstreitigkeiten mit ihren südlichen Nachbarn. Angelockt von der Fruchtbarkeit des Bodens und ihrem Reichtum, hatten diese das blühende Land vereinnahmen wollen. Seit dieser Zeit waren alle Österbergs von weisen Tempelrittern erzogen worden, die zu ihren besten Beratern und Verbündeten geworden waren.
Angeblich hatte ein Vorfahre des Herzogs bereits als Kind komplizierte mathematische Berechnungen angestellt, vertrackte geometrische Probleme gelöst und kannte sich aufs Genaueste mit den Sternbildern aus. Das erste Schwert, das sein Vater ihm schenkte, und die Handschriften, von denen es im geheimen Laboratorium seines Lehrmeisters nur so wimmelte, waren die besten Gefährten seiner Kindheit, und bald begann er, in Algebra eigene Theorien zu entwickeln. Außerdem schrieb er Gedichte, beherrschte die Hieroglyphenschrift und errichtete mit zwanzigjahren zur allgemeinen Verblüffung eine Sternwarte, in der er und sein Meister nächtelang die Wunder des Universums betrachteten.
»Ist Herzog Ulf von Österberg auch ein Auserwählter?«, fragte Grimpow, als ihm einfiel, was Bruder Rinaldo ihm in der Nacht über die Weisen erzählt hatte, die das Geheimnis des Salomonischen Tempels in Jerusalem kannten.
»Das weiß niemand. Aber seine Vasallen halten ihn alle für einen großen Weisen. Obwohl er nie dem Templerorden angehört hat, zumindest nicht offiziell, muss er ihm sehr verbunden sein.
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