Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Bodenklappe zu legen. Wenn im Dunkeln ein Gespenst in der Abtei herumirrt, dann ist es ohne Zweifel der Diener, malte sich Grimpow aus. Das missgestaltete Gesicht und der zahnlose Mund jagten ihm schreckliche Angst ein, auch wenn in seinen Augen immer noch der Ausdruck des traurigen, schutzlosen Kindes lag, das den Abt einst dazu veranlasst hatte, ihm das Leben zu retten.
In gewisser Weise verdankte auch Grimpow sein Leben einem anderen, nämlich Durlib. Nur würde er es im Unterschied zu Keno nicht fertigbringen, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um das seines Freundes zu retten. Er kam sich deshalb wie ein Feigling vor und beschloss daher, diesen fensterlosen Raum zu verlassen. Dann konnte er vor der Klosterpforte auf die Rückkehr von Burumar de Gostelle warten, ihm alles erzählen, was er wusste, und ihm seinen magischen Stein im Austausch für Durlib anbieten.
Er suchte in den Regalen nach den geheimen Hebeln zum Öffnen der unsichtbaren Tür, durch die der alte Mönch die angrenzenden Räume der Bibliothek betrat und wieder verließ -doch vergeblich. Auf den Regalbrettern standen nur verstaubte Handschriften voller Spinnweben, die an seinen Fingern haften blieben. Es kam ihm vor, als wäre er in die klebrige Falle eines entsetzlichen, erbarmungslosen Ungeheuers getappt, das ihm seinen dunklen Schlund zeigte. Wahllos nahm er einige Bücher heraus, da fiel sein Blick auf den Titel eines alten, abgegriffenen Bandes, der seine Aufmerksamkeit bannte. Er war lateinisch und lautete:
LAPIS PHILOSOPHORUM
»Der Stein der Weisen!«, rief Grimpow laut aus.
Er vergaß all seine Befürchtungen und vertiefte sich an dem Tisch in der Mitte des Kabinetts in dieses aufwühlende Buch eines unbekannten Autors. Der Junge war sicher, dass er auf den dicken Pergamentblättern zumindest die Antwort auf einige seiner Fragen nach der Herkunft des Steins finden würde, und brannte darauf, das Geheimnis zu lüften.
Er begann zu lesen, ohne den Sinn der Worte recht zu begreifen. Aber je weiter er in der Lektüre voranschritt, desto deutlicher entstanden vor seinem geistigen Auge die Bilder der langen, weit zurückliegenden Geschichte der Weisen aus vergangenen Zeiten und fernen Ländern, deren größtes Streben die Suche nach dem Stein der Weisen gewesen war.
Soweit Grimpow verstand, handelte die Handschrift von der ehrwürdigen Kunst der Verwandlung einfacher Metalle in Gold, genannt Alchimie. Der Autor erklärte eine Vielzahl wirrer Methoden, mit denen die Weisen in ihren Laboratorien den begehrten lapis philosophorum herstellten. Mit diesem Stein ließen sich jedoch nicht nur die armseligsten Metalle in reines Gold verwandeln, vielmehr ermöglichte er seinem Schöpfer auch, zu vollkommener Weisheit und Unsterblichkeit zu gelangen. Wegen dieser wundersamen Eigenschaften war die Vorgehensweise der Alchimisten nur den Eingeweihten zugänglich und das Wissen wurde jeweils vom Meister an seine Schüler weitergegeben. Dadurch wollte man verhindern, dass der Stein der Weisen gewissenlosen Personen in die Hände fiel, die seine wundersame Macht dazu benutzten, sich zu bereichern und die Welt zu beherrschen.
Grimpow überlegte, ob es sich bei seinem Stein womöglich um den Stein der Weisen handelte, von dem in diesem Buch die Rede war. Hatten ihn die rätselhaften Tempelritter vielleicht anhand einer Handschrift aus dem Tempel Salomons in ihren geheimen Laboratorien hergestellt? War er deshalb beim Papst und beim König von Frankreich so begehrt, weil sie damit ihre leeren Schatztruhen mit Gold füllen und ihre Feinde mit ihren Heeren niederwalzen wollten? Grimpow nahm sogar an, dass dieser Stein dem Templerorden zu seinem Reichtum verholfen hatte. Der in den Bergen erfrorene Edelmann hatte gewiss die Mission gehabt, den Stein an irgendeinem geheimen Ort zu verstecken, damit das wertvolle Stück nicht seinen Verfolgern in die Hände fiel, nachdem die in Paris gefolterten Templer seine Existenz preisgegeben hatten.
Mit diesen Überlegungen verbrachte er den Rest des Tages, überzeugt davon, er besitze einen magischen Stein von außerordentlichem Wert. Zugleich beunruhigte ihn die Gewissheit, dass die beiden grausamsten und mächtigsten Männer der Welt genau diesen Stein um jeden Preis in ihren Besitz bringen wollten.
Einige Zeit nachdem die Turmglocken der Abtei zur Vesper geläutet hatten, kam Bruder Rinaldo von Metz den Jungen in seinem Gefängnis besuchen. Grimpow nahm an, dass es bereits dunkel war, und nach der Miene des alten
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