Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Berg Stroh bis an die mächtigen Dachbalken hinaufreichte. Den schob er zum Teil beiseite und öffnete eine Bodenklappe, welche einen Schacht freigab, der so tief und schwarz war wie ein ausgetrockneter Brunnen. Behände ließ er sich hineingleiten und bedeutete Grimpow, ihm zu folgen. Der Junge wusste, dass er von diesem Riesen mit dem Gesicht eines Ungeheuers und der Seele eines Kindes nichts zu befürchten hatte, und folgte ihm, ohne zu zögern, trotz der absoluten Dunkelheit, in die sie sich begaben. Über ihren Köpfen schloss sich die Klappe wieder und sie stiegen blind eine Eisentreppe an der Wand des Schachts hinab. Unten angelangt tastete Keno eine Ecke ab, dann zündete er eine Fackel an, in deren Schein Grimpow sehen konnte, dass sie sich in einem engen Tunnel befanden. An dessen Ende tat sich eine geräumige Höhle auf, durch die ein dunkler Bach floss. Die Wände waren aus Felsen und über ihnen glitzerten spitze Stalaktiten wie durchscheinende Weichtiere im Mondlicht.
Keno steuerte auf etwas zu, was wie eine uralte Holztruhe aussah, und winkte Grimpow zu sich heran. Er drückte ihm die Fackel in die Hand und öffnete den Deckel der Truhe, als wollte er einen kostbaren Schatz heben, der jahrhundertelang in dieser unterirdischen Höhle verborgen gewesen war. Der Junge näherte die Fackel der offenen Truhe und erstarrte zu Stein, als er das prächtige Schwert sah, das auf dem sorgfältig zusammengefalteten Umhang eines Ritters ruhte.
Er fragte Keno, ob er wisse, wem das Schwert gehöre, aber der Diener zuckte lediglich die Achseln und grinste ihn mit seinem zahnlosen Mund an. Grimpow malte sich sogleich aus, dass dies vielleicht die Gewänder waren, die Bruder Rinaldo getragen hatte, als er vor langer Zeit in der Abtei Brinkum eingetroffen war. Der Schaft des Schwertes war aus purem Gold und mit Edelsteinen besetzt, ähnlich wie bei den Dolchen, die der tote Edelmann bei sich gehabt hatte. Am Ende des Schaftes war ein Kreis mit einem roten achtspitzigen Kreuz eingraviert, und auf dem Ubergang zwischen Schaft und Klinge war ein kleines Medaillon mit einem Reiter eingelassen, der im Galopp eine Lanze schwang.
Grimpow gab Keno die Fackel zurück und nahm das schwere Schwert in die Hand. Kaum berührten seine Finger den Schaft, da erschien vor seinem geistigen Auge ganz deutlich eine Reihe von Bildern, in denen Bruder Rinaldo von Metz auftauchte, das Gesicht hinter dem Visier eines Helms verborgen, im Kettenhemd und einer weißen Tunika, auf die in Brusthöhe ein großes rotes Kreuz gestickt war. Es war das gleiche Kreuz, das auch hinten auf den weißen Mantel genäht war, der seinen Rücken bedeckte, das seinen langen Schild zierte und das von dem kleinen Kreis eingerahmt wurde, der den Schaft seines Schwertes krönte. Auf einem feurigen schwarzen Streitross ritt er durch eine Menschenmenge aus Frauen und Kindern, die schreiend vor einer Feuersbrunst flohen und auf die er im Blutrausch erbarmungslos mit seinem Schwert einschlug.
Grimpow schloss die Augen, außerstande, diese Schreckensvision von Blut und Tod noch länger zu ertragen, und warf das Schwert zu Boden. Keno sah ihn daraufhin verblüfft und erschrocken an, als hätte auch er mit seinen Kinderaugen dieses makabre Gemetzel gesehen.
Auf den Schneesturm folgte ein kalter, aber strahlender, wolkenloser Tag. Die Berggipfel im Norden zeichneten sich wie spitze Reißzähne am Horizont ab, die den Himmel verschlingen wollten. Darüber bewegte sich die Sonne gemächlich auf ihrer ewig gleichen Bahn von Osten nach Westen. Auf den Tannen türmte sich der Schnee, sodass die Äste fast bis zum Boden herunterhingen, und weiter im Süden, bei den Wasserfällen, zog ein Schwarm Aasgeier über dem Tal bizarre Kreise, die von einem saftigen Mahl kündeten.
Grimpow sagte Bruder Rinaldo Bescheid, dass er das verletzte Pferd des Templers versorgen wolle, und verließ die Abtei in Richtung Stall, nachdem sich die Mönche im Refektorium eingefunden hatten. Das Haupttor war verschlossen, aber Keno hatte ihm den Weg zu den Stallungen gezeigt. Vom Gemüsegarten aus brauchte er bloß über einen kleinen Zaun zu springen und schon befand er sich außerhalb der Abtei.
Er trug den Dolch des toten Edelmannes unter dem Fellumhang versteckt und konnte es kaum erwarten, endlich herauszufinden, ob Durlib noch lebte. Dazu musste er nur den steilen Abhang mit der dicken Schneedecke, unter der sich der Weg schlängelte, ganz hinunterlaufen. Das Wegkreuz war so nah, dass er es
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