Grimpow Das Geheimnis der Weisen
selten der Fall. Das letzte Mal, dass ich ihn etwas sagen hörte - und ich meine mich zu erinnern, dass es eine Gotteslästerung war-, war im letzten Winter. Ich habe es nicht vergessen, weil es da auch so viel geschneit hat. Ich glaube, er ist der einzige Mönch in unserer Abtei, der sich streng an unsere Schweigeregel hält.«
Grimpow begleitete den Kräutermönch in die Krankenstube und beobachtete, wie er Bruder Umberto von Alessandria mit einem Metalllöffel eine breiige, gelbliche Flüssigkeit einflößte. Nun fielen dem Jungen die ausgetrockneten Augenhöhlen und die fahle Haut des blinden Mönchs auf, der zwar nach mehr als hundert Jahren verwelkt war, aber dennoch die Züge eines weisen, vornehmen Mannes bewahrte.
»Dich überrascht, dass er gar nicht so alt aussieht, hab ich recht?«, fragte Bruder Arben, nachdem sie ins Laboratorium zurückgekehrt waren.
Grimpow nickte wortlos.
Der Kräutermönch sprach weiter: »Kurz vor dem Unfall, der ihn des schönsten aller Sinne beraubt hat, vertraute mir Bruder Umberto an, dass er glaube, endlich die Formel für das Lebenselixier gefunden zu haben. Verführt von der Aussicht auf Unsterblichkeit, habe er, entgegen den Geboten der Kirche und ohne Furcht vor der Strafe Gottes für seine Verwegenheit, davon getrunken. Als er später erblindete, dachten die Mönche, der Abt eingeschlossen, Gott hätte den Destillierkolben zerbersten lassen, weil Umberto Seine Barmherzigkeit herauszufordern gewagt hatte.«
»Es war doch nur ein Unfall. Wie könnte Gott so grausam sein!«, widersprach Grimpow.
»Bruder Rinaldo und ich dachten wie du, aber der Schritt von der Vernunft zum Aberglauben ist genauso klein wie der vom Leben zum Tod.«
»Hat Bruder Umberto Euch nicht die Formel für den Stein der Weisen verraten?«, fragte Grimpow. Er brannte förmlich darauf, die Antwort zu erfahren.
»Nein, das hat er nie getan, und selbst wenn, hätte es mir nichts genützt.«
»Bruder Rinaldo hat mir erzählt, dass Ihr ebenfalls den sogenannten lapis philosophorum sucht und ganze Nächte in diesem Laboratorium zubringt.«
Der kleine Kräutermönch lächelte mit seinem gutmütigen Possenreißergesicht. »Mein lieber Grimpow, dem wahren Alchimisten kommt es nicht auf das Ergebnis an, sondern auf das, was er während seiner Suche l^rnt. Deshalb muss jeder Alchimist seinen eigenen Weg gehen, in dem Bestreben, das geniale, weise Wesen aufzuspüren, das in ihm steckt. Ich muss gestehen, ich habe es noch nicht gefunden.«
»Dann versucht Ihr also nicht, grobe Metalle in reinstes Gold umzuwandeln?«, fragte Grimpow, völlig verwirrt über die Äußerung des Mönchs.
»Ja und nein«, antwortete dieser. »Ich experimentiere in der Tat mit Metallen, um sie so rein zu machen wie Gold, aber ich werde nicht vom Ehrgeiz getrieben und strebe auch nicht nach Reichtum. Dieser außerordentliche Stein der Weisen, auf den alle Alchimisten aus sind, ist kein Gold, wie viele Scharlatane fälschlicherweise behaupten, sondern etwas so Unstoffliches wie die Weisheit. Das Gold ist nur ein Sinnbild, ein Symbol für die Vollkommenheit der Seele, nach der die wahren Alchimisten streben. Dieser Vollkommenheit nähern sie sich durch das Wissen, das sie sich bei der alchimistischen Umwandlung von Metallen erwerben und das die Fähigkeit des Menschen unter Beweis stellt, den Geheimnissen der Natur auf die Spur zu kommen und sie zu lüften. Die Alchimie versucht, sich die Materie Untertan zu machen, sie umzuwandeln und neu zu erschaffen, so wie Gott es tat, als er die Welt erschuf. Aus diesem Grund ist jede Zeit anders als die vorhergehende und die nachfolgende. Deshalb ist ja auch die Zukunft unseres Lebens und der Menschheit so ungewiss und faszinierend«, erklärte der Mönch begeistert.
Nach einem kurzen Räuspern fuhr er fort: »Jede unserer Errungenschaften wird bald verblassen angesichts der Erfindungen vieler Weiser, die alle erdenklichen Apparate bauen werden. Wir müssen nur darauf achten, dass diese Wunderwerke der Entwicklung der Menschheit dienen, nicht ihrer Zerstörung. Deshalb halten wir unsere Kenntnisse, Forschungen und Entdeckungen absolut geheim und machen sie nur den Eingeweihten zugänglich. Die anderen würden sie nicht verstehen, sondern missbrauchen. Und so mancher würde sich wohl sogar darüber lustig machen.«
»Betrachtet die Kirche die Alchimisten deshalb als Ketzer?«
»Die Kirche und die Könige treibt nur die Sorge um, dass irgendwann jeder Gold herstellen und dadurch mächtiger
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