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Grimpow Das Geheimnis der Weisen

Grimpow Das Geheimnis der Weisen

Titel: Grimpow Das Geheimnis der Weisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Abalos
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Avicenna verfasste Abhandlung über die menschliche Anatomie studierte. Der alte Mönch steuerte auf das Geheimkabinett mit den verbotenen Büchern zu und kehrte kurz darauf mit einer umfangreichen Handschrift zurück, die er auf den Schreibtisch legte. Ihr Titel lautete Liber monstruosum.
    Er schlug den Band auf und blätterte darin, bis er auf eine bezaubernde Illustration stieß: eine junge Frau von unerhörter Schönheit, deren goldenes Haar ihr wie eine Kaskade über die Schultern fiel. Ihre himmelblauen Augen schienen Grimpow herausfordernd anzublicken, während dieser sich ohne jede Scham an der Betrachtung ihrer großen, runden Brüste ergötzte und dabei ein sonderbares, wohliges Prickeln verspürte. Unterhalb des Nabels ging der Körper der Sirene in den silbrig glitzernden Schwanz eines großen Seefisches über, der anmutig auf einer Klippe ruhte. Neben der Abbildung stand eine in Lateinisch abgefasste Textspalte: »Sirenen sind Meerjungfrauen, die die Seeleute mit ihrer trefflichen Gestalt und ihrem liebreizenden Gesang verführen. Vom Kopf bis zum Nabel haben sie einen weiblichen Körper und gleichen einem Menschen, indes haben sie den schuppigen Schwanz eines Fisches, mit dem sie sich in der Tiefe fortbewegen.«
    Während Grimpow den Blick nicht von den nackten Brüsten des Wesens abwenden konnte, erzählte Bruder Rinaldo ihm eine Geschichte, die er auf einer seiner Reisen gehört hatte. Eine Expedition christlicher Kreuzritter, die auf dem Seeweg ins Heilige Land unterwegs waren, war vom Sturm auf eine unbekannte Insel gespült worden und hatte deutlich das Gemurmel, die Gesänge und das Lachen der Sirenen gehört. Hingerissen von der Lieblichkeit ihrer Stimmen, waren die Kreuzritter der Versuchung erlegen, sie zu lieben, und man hörte nie wieder von ihnen, bis Jahre später ein venezianisches Handelsschiff an der Küste der geheimnisvollen Insel vor Anker ging und die Skelette der Ritter in Galauniform auf den Klippen verstreut fand.
    Diese Legende versetzte Grimpow in Unruhe, denn da Durlib sich auf die Suche nach Sirenen machen wollte, fürchtete er, sein Freund könne auf dem Meer den Tod finden, dem er in den Bergen entgangen war.
    Aber der alte Mönch beruhigte ihn: Die schönen Sirenen seien seiner Meinung nach nur eine Erfindung, ein Sinnbild der Gefahren der Fleischeslust, die den Männern so viel Unglück einbringe, seit Eva im Paradies Adam in Versuchung geführt hatte.
    Die vielen Abbildungen in diesem Bestiarium weckten Grimpows Neugier, und so verbrachte er den ganzen Vormittag damit, sie sich alle anzusehen, während Bruder Rinaldo ihm mit unverhohlener Begeisterung von Fabelwesen wie dem Einhorn, dem Zentaur, dem Drachen und dem Basilisk erzählte, einem Mischwesen zwischen Drachen und Hahn, das mit seinem Blick einen Menschen töten konnte. All diese Wesen und Legenden seien lediglich von den Menschen seit Anbeginn der Welt ersonnene Fabelwesen, um mit ihnen die ganze Magie und Rätselhaftigkeit des Universums zum Ausdruck zu bringen, erklärte der Mönch.
    In den folgenden Tagen fand Grimpow beim Studium vieler alter Handschriften in der Klosterbibliothek bestätigt, dass die ersten Bewohner der Erde diese Mythen von Göttern und Fabelwesen dazu benutzt hatten, die Wunder um sie herum zu erklären. Sie ordneten den Himmel den Göttern zu, die Erde den Tieren und Menschen und die finsteren Tiefen den Ungeheuern, Teufeln und Dämonen. Für sie war alles, was sich in diesen Welten zutrug, chaotisch und ein Ergebnis des Zufalls. Nur den Göttern war es gegeben, in den ungewissen Verlauf dieser Ereignisse Ordnung zu bringen. Der Junge lernte jedoch auch, dass nach dem Auftauchen der Schrift vor Tausenden von Jahren einige weise Männer das Universum und die Natur anders wahrnahmen. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Erscheinungen in ihrer Umgebung nicht dem launenhaften Willen der Götter unterlagen, sondern feststehenden Gesetzen folgten. Diese schlugen sich in den Dingen selbst nieder, deren Wesen man erforschen konnte.
    Nichts überraschte Grimpow jedoch so sehr wie die mathematischen Theorien eines griechischen Weisen namens Pythagoras, den die Perser fast fünfhundert Jahre vor Christus festgenommen und nach Babylonien geschafft hatten, wo Magier ihm beibrachten, dass man das Wesen aller Dinge mithilfe von Zahlen ausdrücken konnte. Der Mönch erzählte Grimpow daraufhin, dass dieser kluge Mann in Kroton eine Schule von jungen Weisen gegründet hatte, die sich Pythagoreer nannten und

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