Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Fenster. Es war mit Holzläden verschlossen, hinter denen der Sturm heulte, als wäre er ein verrückt gewordenes Gespenst. Der Diener schien zu schlafen, aber als er Grimpows Schritte hörte, fuhr er zusammen und sah ihn erschrocken an. Noch unter dem Eindruck der dramatischen Geschichte, die Bruder Brasco ihm in der Küche gerade erzählt hatte, lächelte der Junge den Diener an und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass Kenos Gesicht sich ebenfalls zu einem unheimlichen, aber freundlichen Lächeln verzog.
Bruder Arben kam ihm aus dem Nachbarraum zu ihrer Rechten entgegen, wo sich der Saal für die Mönche befand. Unter den drei Fenstern der Krankenstube standen etliche Betten aufgereiht, aber nur zwei waren belegt. Auf dem einen döste ein junger Mönch mit einem geschienten Bein, der beim Ausbessern des undichten Kirchendachs von der Leiter gestürzt war und sich den Knöchel gebrochen hatte. Auf dem anderen Bett sah Grimpow nur ein in Decken gehülltes Bündel, darunter den reglosen Körper eines hundertjährigen, bärtigen Mönchs. Der Mann war offenbar blind, denn seine Augen waren starr auf einen unsichtbaren Punkt an der Gewölbedecke gerichtet. Er war der älteste Bruder der Abtei, hieß Umberto von Alessandria, rührte sich seit zwanzig Jahren nicht mehr und tauchte seither auch nicht mehr aus seinen Gedanken auf.
Über den Sternen
E in durchdringender Geruch nach verbranntem Zinn und Schwefel erfüllte Bruder Arbens alchimistisches Laboratorium. Den länglichen, schmalen Raum, der durch zwei runde Fensterluken in den Wänden mit Licht versorgt wurde, betrat man durch eine absplitternde, eisenbeschlagene Holzpforte unter einem steinernen Torbogen. Zwei dicke Säulen stützten die niedrige, vom Rauch der Feuerstellen rußige Decke und auf Borden standen unzählige Glasgefäße mit Flüssigkeiten in allen Farben, dazu die unterschiedlichsten Flaschen, Destillierkolben, Reagenzgläser, Schmelztiegel, Glaskolben, Schüsseln, Tonschalen und Kupferkessel. Auf einem Tisch, der mit dunklen Flecken übersät war, lagen etliche Handschriften und Pergamente neben einem Leuchter mit fünf gebogenen Armen sowie mehreren Federkielen und Tintenfässern. Alles in diesem Raum schien mit einer geheimnisvollen Patina überzogen, die so alt war wie die Zeit selbst.
Der kleine Kräutermönch ließ sich seine Begeisterung, Grimpow zum Schüler zu haben, deutlich anmerken. Kaum hatte der Junge das Laboratorium betreten, erzählte er ihm, dass er vor vielen Jahren selbst von dem inzwischen erblindeten Bruder Umberto alles gelernt hatte, was dieser über die Krankheiten des Körpers und der Seele wusste. Der alte Mönch hatte ihm beigebracht, wie Heilkräuter, Pflanzen, Salben, Tinkturen, Heiltränke und sogar Gifte in kleinen Dosen eine heilsame Wirkung entfalteten. Wie ein Gelehrter, der von dem unbezähmbaren Wunsch erfüllt ist, seine medizinischen Kenntnisse vor jemandem auszubreiten, für den alles neu ist, redete Arben ausschweifend über Schwindsucht, Brand, Geschwüre, Pocken, Pest und Aussatz als den schrecklichsten Waffen des Todes.
Während der Kräutermönch anschließend einen Saft aus Honig und Minze zubereitete, um die Lungensekretion des hundertjährigen Umberto anzuregen, und eine Salbe aus Aloe und Fett zusammenrührte, damit die Wunde am gebrochenen Knöchel des anderen kranken Mönchs endlich vernarbte, gestand er Grimpow, worin er seine wahre Berufung sah. Er wollte einer der großen Kenner der geheimnisvollen Kunst der Alchimie werden, in deren Mysterien ihn ebenfalls Bruder Umberto eingeführt hatte. Doch dann war dieser bei einem verhängnisvollen Unfall, als ein Destillierkolben zerborsten war und ihm unzählige Scherben in die Augen getrieben hatte, für immer erblindet.
»Hat er das Augenlicht verloren, als er hier in diesem Laboratorium den Stein der Weisen gesucht hat?«, fragte Grimpow aufgeregt. Die Geschichte des rätselhaften blinden Mönchs hatte ihn vollends gepackt.
»Bruder Umberto hat weit mehr als das verloren. Mit dem Augenlicht ist auch seine Lebensfreude verschwunden. Seither liegt er Tag und Nacht wie ein Starrsüchtiger darnieder und weigert sich aufzustehen, sogar wenn der Abt persönlich es ihm befohlen hat. Obwohl ihm der Abt schon mehrfach mit Exkommunikation gedroht hat, hat er nie wieder einen Fuß auf den Boden gesetzt, nicht einmal um in die Latrine zu gehen.«
»Spricht er denn auch nicht?«, fragte Grimpow.
»Nur wenn ihm danach zumute ist, und das ist äußerst
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