Grippe
letzte Spur Einfühlsamkeit, die er sich noch bewahrt hatte, schien nun getilgt, und der einzige Grund, sich nicht die Glock in den Mund zu schieben und abzudrücken, bestand in dem Versprechen, das er abgegeben hatte – einem Schwur, von dem er nicht wusste, ob er es wert war, gehalten zu werden.
Sagen Sie meiner Frau, sie hatte recht.
Er sah, dass Geri den Leichnam entdeckt hatte, der am Boden unter einem alten Laken lag.
»Ist er –«
George stellte die Frage zu Ende: »Tot? Ja.«
Während er sprach, schaute er nach, wie viele Patronen er noch hatte.
»Und wieder tot?«, ergänzte er. »Auch ja.«
Dann ging er auf das Tor zu, während er Lark ins Auge fasste und die Waffe hob.
Der bemerkte ihn, warf die Kippe weg und hob flehentlich die Arme.
»Fuck, Kumpel! Hör auf!«, rief er, ließ sich fallen und kauerte am Boden.
Als George feuerte, streifte er die Wange eines Toten direkt hinter Lark.
Der Tätowierte schaute zurück und erschrak ob der nahen Bedrohung. Er nahm das Gewehr von der Schulter, um der Leiche ein Ende zu bereiten. Gleich erschien eine weitere zu seiner Linken, der er mit zwei Schüssen ebenfalls Einhalt gebot. Als er versuchte, das Tor herunterzuziehen, kam George ihm zur Hilfe. Zu zweit gelang es ihnen, dichtzumachen, bevor ein weiteres Rudel Toter die Einfahrt erreichte.
Lark sah George an und nickte, was dieser als Geste der Dankbarkeit interpretierte.
Er erwiderte sie.
»Musst auf deinen Rücken achten«, bemerkte er leise. »Ständig.«
Larks Miene zeugte von Unbehagen. Er schultere die Waffe und machte sich auf den Weg in die Mitte der Halle.
»Sei nicht so«, bat Geri, als sie an Lark vorbei zu George ging. »Das sieht dir nicht ähnlich.«
» Ach, aber ihm, oder was?«, fragte George mit einem Fingerzeig.
»Das meinte ich damit nicht«, antwortete sie knapp, »und das weißt du.«
» Was meinst du dann?«
»Dass du ein redlicher Kerl bist. Jemand, dessen Niveau ein solches Verhalten nicht entspricht.« Sie schaute ihm tief in die Augen. Dann wollte sie eine Träne aus seinem Gesicht wischen, die in erster Linie seinem Frust geschuldet war und keiner Gefühlsduselei.
»Tja, die Welt hat sich verändert«, erwiderte er und entzog sich. »Ich passe mich an.«
Geri zeigte ihm ihre Enttäuschung, doch George fand, dass sie kein Recht besaß, irgendetwas von ihm zu erwarten. Immerhin hatte sie ihn zum Sterben hier zurückgelassen, um mit diesem … Penner herumzuziehen. Nach allem, was sie miteinander erlebt hatten, galt ihm das prinzipiell als unverzeihlicher Fauxpas. Allerdings wurden seine Prinzipien mit jedem Tag schwammiger. Sie mussten die Welt reflektieren, in der er lebte. Sie gaben ein entsetzliches Spiegelbild ab. Ein Bild von Tod, Dunkelheit und Kummer. Ein Bild des Endes. Unmittelbar und grausam.
26
Wie die Sonne ihrem Lauf folgte und die trostlosen Straßen eines nicht erwachen wollenden Belfast sanft flutete, setzten die wenigen Überlebenden ihren Kampf gegen die stetig wachsende Zahl der Toten fort. Einige – so auch Sergeant George Kelly – hatten ihn aufgegeben. Die erschöpften, unterernährten Menschen stumpften ab, da die Leichen immer heimtückischer wurden, je weiter das Virus jedes Organ zersetzte, jede Arterie und Vene verstopfte. Viele wurden damit nicht fertig. Ein einzelner Schuss um 7:05 Uhr im Zentrum der Stadt verdeutlichte dies: Ein weiterer Fighter streckte die Waffen.
Dennoch, auf jeden Mann und jede Frau, der oder die sich selbst in den Kopf schoss oder einen letzten Whisky mit Gift versetzte, kam jemand anders, der sich nicht beugen wollte. Der von der Sehnsucht nach Freiheit zehrte. Castlecourt, eines der größten Einkaufszentren in Belfast, wurde von Toten überrannt. Sie durchbrachen notdürftig errichtete Barrieren, um die Galgenfrist der Lebenden abrupt zu verkürzen. Eine kleine Gruppe Überlebender saß zusammengepfercht in einem Lagerraum, und ihre Vorräte reichten kaum mehr bis übermorgen. Am Flughafen Templepatrick widersetzte sich ein anderes Knäuel – darunter auch einige Soldaten eines benachbarten Armeestützpunktes – furchtlos der zunehmenden Schwemme Toter. Seit Tagen – nein, seit Wochen schon hielten sie dort die Stellung und richteten Flugzeuge zur Flucht her. Alles, was sie brauchten, war noch ein bisschen mehr Zeit … einen letzten Aufschub …
Nicht wenigen kam es sinn- und hoffnungslos vor, sich weiterhin anzustrengen, und nur der Überlebensinstinkt ließ die Unentwegten ihr Denkvermögen nicht
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