Grippe
flammender Lunte ähnlich einer Brandbombe. Vernichtend. Beruhigend. Gierig hinuntergestürzt wie beim Komasaufen zum Junggesellenabschied. Ein Trinkspruch auf die alte und die neue Zeit.
Pat nahm das Gewehr zur Hand und richtete das Fernrohr am Horizont aus. Dann legte er sich auf den Bauch und rutschte herum, bis er einen günstigen Blickwinkel gefunden hatte. Beim Zielen sorgte er mit ruhiger Hand dafür, dass der Kopf des Uniformierten eindeutig in Schussweite blieb. Er feuerte einmal, ohne das Auge vom Rohr abzuwenden. Zufrieden sah er den Schädel bersten, bevor der Cop zu Boden sackte, lautlos aus der Entfernung.
Pat stand unverzüglich auf, schraubte das Fernrohr ab und sicherte schnell das Gewehr, ehe er es in seine Tasche steckte und das Dach so leise verließ, wie er heraufgekommen war.
A ls er die Wohnung betrat, stand Karen am Fenster und beobachtete die Toten. Sie schienen sie zunehmend zu faszinieren, was Pat beunruhigte. Er wusste, wozu Menschen mit Lagerkoller fähig waren, nachdem er bei Einsätzen wochenlang mit anderen IRA-Mitgliedern auf noch engerem Raum als diesem ausgeharrt hatte. Man musste Stärke beweisen, um sich einen eigenen Platz abzustecken an einem Ort, an dem so gut wie kein Platz war, und er bezweifelte, dass Karen solchen Schneid besaß.
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Bloß auf dem Dach«, antwortete er harmlos.
»Was hast du dort gemacht«, stocherte sie weiter.
»Nicht viel«, log er, während er seine Tasche vorsichtig hinterm Sofa verstaute. Da bemerkte er, welches Durcheinander mittlerweile in der Wohnung herrschte. Auf dem Beistelltisch standen angebrochene Dosenfrüchte neben einer Kaffeetasse, und zwar beide ohne Untersetzer.
»Komisch«, fuhr Karen fort, immer noch mit Blick nach unten. »Mir war, als hörte ich einen Schuss.«
Pat ließ sich auf dem Sofa nieder und fuhr sich durchs Haar, um es zu glätten. Dabei schaute er nach Karen, die sich nicht gekämmt hatte. Zudem trug sie immer noch Pyjama und Morgenmantel. Gewaschen schien sie sich nicht zu haben, nachdem sie aufgestanden war.
» Geht es dir gut?«, fragte er.
Sie bejahte und drehte sich endlich um. »Warum?« Sie schaute ihm in die Augen.
»Du wirkst ein bisschen –«
»Gerädert?«, ergänzte sie humorlos.
»Na ja, so würde ich es nicht ausdrücken«, lenkte Pat ein.
»Ist es nicht müßig, sich über mein Aussehen Gedanken zu machen?«, wollte sie wissen. »Wen juckt ’ s, solange ich nicht vor die Tür komme?«
»Hör auf«, bat er, da er das ewig gleiche Spiel leid war. »Stell dich nicht so an …«
»Ich stelle mich nicht an«, widersprach sie. »So sieht ’ s eben aus, oder?«
Pat stand auf und ging zur Küchenzelle, um Tee zu kochen. Die Arbeitsplatte war nicht abgewischt, was er am überall verstreuten Kaffeepulver bemerkte. Dies brachte mit einem Schlag Bilder aus seiner Kindheit zurück – unbeschwerte Tage, an denen er im Garten Schmetterlinge gejagt hatte.
»Wir müssen uns eine positive Denkweise bewahren«, erklärte er. »Was in Zukunft geschieht, wissen wir nicht. Vielleicht werden die Toten eines Tages matt oder sterben sogar.«
» Das sind sie doch schon«, erinnerte Karen erneut bar jeglicher Ironie. »So ist es, und wenn wir sterben, unterscheiden wir uns nicht mehr von ihnen.«
»Das weißt du doch gar –«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Und ob. Wir wissen es, können uns absolut sicher sein. Genaugenommen lässt sich abgesehen davon überhaupt nichts mit Bestimmtheit sagen. Der Tod ist seit jeher unsere einzige Gewissheit; so lernte ich es in der Kirche. Andererseits … jetzt dürfen wir nicht einmal mehr darauf vertrauen.«
Pat sah, dass sie geweint hatte. Die getrockneten Schlieren sahen wie altes Klebeband aus. Er wollte zu ihr gehen und sie trösten, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Was sollte er ihr sagen? Wie konnte er sie davon überzeugen, sich nicht aufzugeben, wo sie das Kind doch mehr oder weniger beim Namen genannt hatte? Ihm wurde klar, wie schnell sie seit ihrer Begegnung eine erwachsene Haltung angenommen hatte, und Zynismus ging damit einher. Dies widerstrebte ihm; er war nicht stolz auf diese Art von Reife, zumal sie ihn nicht mehr als Ersatzvater betrachtete, der sie vor bösem Spuk bewahrte. Sie misstraute ihm, schwärmte nicht mehr für ihn, und er merkte, wie abhängig er von ihr geworden war. Seine Ausgeglichenheit war ihr geschuldet, und sie hatte ihn davon abgelenkt, was um sie herum passierte. Er
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