Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
dies nicht so rasch vergessen. Und ich auch nicht.
Einige Grischa waren nach Os Alta geflohen, um sich dem Schutz des Zaren zu unterstellen. Andere waren untergetaucht. Nikolaj vermutete, dass die meisten zum Dunklen übergelaufen waren. Doch mit der Unterstützung von Nikolajs unabhängigen Stürmern schafften wir am ersten Tag zwei Fahrten durch die Schattenflur, am zweiten Tag drei und am dritten Tag vier. Sandskiffs reisten leer nach West-Rawka und kehrten voll beladen mit Gewehren der Semeni, mit Kisten voller Munition und mit Bauteilen für Schnellfeuergeschütze zurück, wie Nikolaj sie auf der Kolibri eingesetzt hatte. Außerdem brachten sie tonnenweise Zucker und Jurda – alles dank Sturmhonds Schmuggelkontakten.
»Bestechung«, sagte Maljen, während Soldaten in den Kisten, die im Dock entladen wurden, wühlten und ausgiebig das schimmernde Waffenarsenal bestaunten.
»Geschenke«, verbesserte Nikolaj ihn. »Du wirst merken, dass die Geschosse funktionieren, egal, welche Motive ich hatte.« Er wandte sich an mich. »Eine Fahrt schaffen wir noch. Einverstanden?«
Ich nickte, obwohl ich eigentlich dagegen war.
Er klopfte mir lächelnd auf den Rücken. »Ich lasse alles vorbereiten.«
Ich spürte Maljens Blick im Rücken, als ich mich zur wabernden Finsternis der Schattenflur umdrehte. Der Vorfall auf der Kolibri hatte sich nicht wiederholt. Was auch immer ich dort gesehen hatte – ob Halluzination oder Vision, ich wusste es nicht –, war bislang ausgeblieben. Trotzdem blieb ich auf der Ödsee die ganze Zeit wachsam und angespannt und bemühte mich, das wahre Ausmaß meiner Angst zu verbergen.
Nikolaj wollte die Überfahrten zur Jagd auf Volkra nutzen, aber ich weigerte mich. Ich behauptete, noch zu geschwächt zu sein und nicht ermessen zu können, ob meine Macht reichte. Die Angst war echt, alles andere war gelogen. Denn meine Macht war stärker denn je. Sie entströmte mir in reinen, vibrierenden Wellen, gleißte mit der vereinten Kraft von Hirsch und Meeresgeißel. Doch der Gedanke, noch einmal das Kreischen hören zu müssen, war mir unerträglich. Ich hüllte die Skiffs in eine weite Kuppel aus Licht, und obwohl die Volkra kreischten und mit den Schwingen peitschten, blieben sie auf Abstand.
Maljen begleitete uns auf allen Überfahrten und stand die ganze Zeit mit schussbereitem Gewehr dicht neben mir. Ich wusste, dass er meine Furcht spürte, aber er verlangte keine Erklärung von mir. Seit unserem Streit im Zelt hatte er meist geschwiegen und ich befürchtete, dass er mir, wenn er endlich wieder den Mund auftat, etwas Unangenehmes zu sagen hätte. Ich war immer noch zur Rückkehr nach Os Alta entschlossen, fragte mich aber beunruhigt, ob er sich nicht doch anders entschieden hatte.
Am Morgen unseres Aufbruchs zur Hauptstadt suchte ich die Menge mit Blicken nach ihm ab. Der Gedanke, dass er nicht erschienen sein könnte, erschreckte mich. Als ich sah, dass er still und aufrecht im Sattel saß und darauf wartete, sich in die Reiterkolonne einzureihen, sprach ich ein kurzes Dankgebet.
Wir brachen vor der Dämmerung auf und schlängelten uns als lange Prozession von Pferden und Wagen aus dem Lager auf die Straße, die allgemein Vy genannt wurde. Nikolaj hatte mir eine schlichte blaue Kefta besorgt, aber ich hatte sie im Gepäck verstaut. Bis er zu meinem Schutz weitere eigene Männer aufbieten konnte, war ich nur eine von vielen Soldatinnen im Gefolge des Prinzen.
Als die Sonne am Horizont aufging, erfüllte mich ein leiser Hoffnungshauch. Die Vorstellung, den Platz des Dunklen einzunehmen, die Grischa wieder zu versammeln und die Zweite Armee zu befehligen, kam mir zwar immer noch sehr vermessen vor, aber immerhin handelte ich, anstatt in der ständigen Angst, dass der Dunkle mich schnappen könnte, auf der Flucht zu sein. Ich besaß zwei der Kräftemehrer von Morozow und ich war zu einem Ort unterwegs, an dem ich vielleicht herausfand, wo ich den dritten finden konnte. Maljen war unglücklich, aber als ich sah, wie die Morgensonne auf die Baumwipfel fiel, glaubte ich fest daran, ihn doch noch für mein Vorhaben gewinnen zu können.
Doch auf dem Weg durch Kribirsk schwand meine Zuversicht zusehends. Wir waren zwar schon nach unserem Absturz durch diese heruntergekommene Hafenstadt geritten, aber ich war zu erschüttert und zerstreut gewesen, um zu merken, wie sehr der Ort sich verändert hatte. Jetzt nahm ich dies in aller Deutlichkeit wahr.
Kribirsk war nie eine Schönheit gewesen,
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