Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
aber auf den Bürgersteigen hatte immer buntes Treiben geherrscht: Reisende und Kaufleute, Männer des Zaren und Werftarbeiter. Links und rechts der vollen Straßen hatte ein Laden neben dem anderen Ausrüstung für die Reise in die Schattenflur angeboten, und darüber hinaus hatte es Kneipen und Bordelle für die im Militärlager stationierten Soldaten gegeben. Nun waren die Straßen still und fast menschenleer, die meisten Kneipen und Läden verrammelt.
Am bezeichnendsten war die Kirche, die ich als schmuckes Gebäude mit leuchtend blauen Kuppeln in Erinnerung hatte. Heute waren die geweißten Wände mit zahllosen Reihen von Namen bedeckt, alle in roter Farbe geschrieben, die an getrocknetes Blut erinnerte. Auf den Stufen türmten sich verwelkte Blumen, kleine Ikonen, die geschmolzenen Reste von Gebetskerzen. Ich sah Flaschen mit Kwass, Berge von Süßigkeiten, eine einsame Puppe. Geschenke für die Toten.
Ich überflog die Namen:
Stepan Ruschkin, 57
Anja Sirenka, 13
Mikah Laskij, 45
Rebeka Laskij, 44
Pjotr Ozerow, 22
Marina Koska, 19
Valentin Yomki, 72
Sascha Penkin, 8 Monate
Und so ging es immer weiter. Meine Finger krampften sich um die Zügel, während sich eine eisige Faust um mein Herz ballte. Ungebetene Erinnerungen kamen hoch: eine fliehende Mutter mit einem Kind in den Armen; ein Mann, der ins Stolpern kam und den Mund zu einem Schrei aufriss, als die Finsternis ihn einholte; eine verwirrte, verängstigte Alte, die von der panischen Menge verschluckt wurde. All das hatte ich gesehen. All das hatte ich überhaupt erst ermöglicht.
Dies waren die Menschen aus Nowokribirsk, das gegenüber von Kribirsk auf der anderen Seite der Schattenflur gelegen hatte. Eine Geschwisterstadt mit Verwandten, Freunden, Geschäftspartnern. Menschen, die in den Werften gearbeitet oder die Skiffs bemannt und gewiss mehrere Überquerungen der Ödsee überlebt hatten. Sie hatten am Rand des Grauens gelebt und sich der Illusion hingegeben, in ihren Häusern und den Straßen ihres Hafenstädtchens in Sicherheit zu sein. Und nun waren sie alle tot, weil ich dabei versagt hatte, den Dunklen aufzuhalten.
Maljen ritt neben mich.
»Alina«, sagte er leise. »Reiß dich hier los.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte mich erinnern. Tascha Stol, Andreij Bazin, Schura Rychenko. So viele wie möglich. Sie waren vom Dunklen ermordet worden. Ob er in seinen Träumen auch von ihnen heimgesucht wurde?
»Wir müssen ihn aufhalten, Maljen«, sagte ich heiser. »Wir müssen eine Möglichkeit finden.«
Ich wusste nicht, welche Antwort ich erwartet hatte, doch er blieb stumm. Vielleicht mochte Maljen mir nichts mehr versprechen.
Irgendwann ritten wir schließlich weiter, aber zuvor zwang ich mich, jeden einzelnen Namen zu lesen. Danach lenkte ich mein Pferd wieder auf die leere Straße.
Je weiter wir uns von der Schattenflur entfernten, desto lebendiger wurde Kribirsk. Ein paar Läden waren geöffnet und auf dem Abschnitt des Vy, der als Straße der Händler bekannt war, wurden Waren feilgeboten. Auf beiden Seiten der Straße standen wackelige Tische, die von bunten Stoffen und vielen anderen Waren bedeckt waren: Gebetstücher, Stiefel, Holzspielzeuge, schäbige Messer in selbst genähten Scheiden. Auf vielen Tischen lag etwas, das wie Steinbrocken und Hühnerknochen aussah.
»Prowin’je osti!«, riefen die Händler. »Autchen’je osti!«
Echte Knochen. Originale Knochen.
Als ich mich vom Pferd beugte, um die Auslagen besser erkennen zu können, rief ein alter Mann: »Alina!«
Ich sah überrascht auf. Kannte er mich?
Plötzlich war Nikolaj neben mir. Er lenkte sein Pferd dicht neben meines, packte meinen Zügel und riss daran, um mich von dem Stand fortzuziehen.
»Net, spasibo«, sagte er zu dem Alten.
»Alina!«, rief der Händler. » Autchen’je Alina!«
»Warte«, sagte ich und drehte mich im Sattel um, weil ich das Gesicht des Alten genauer sehen wollte. Er ordnete die Ware auf seinem Tisch. Da wir nichts kaufen wollten, schien er jedes Interesse an uns verloren zu haben.
»Warte«, wiederholte ich. »Er hat mich erkannt.«
»Nein, hat er nicht.«
»Er kennt meinen Namen«, sagte ich zornig.
»Er wollte dir Reliquien andrehen. Echte Fingerknochen von Sankta Alina.«
Ich erstarrte und ein kalter Schauder überlief mich. Mein ahnungsloses Pferd trottete weiter.
»Echte Knochen von Sankta Alina«, wiederholte ich dumpf.
Nikolaj verlagerte unruhig das Gewicht. »Man munkelt, du wärst auf der Schattenflur
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