Grischa: Goldene Flammen
Worte nachdachte, desto gröÃer wurde meine Sorge, dass er Recht haben könnte. In mir nagte die Sorge, dass ich uns beide ins Unglück gestürzt hatte. Mich brauchte der Dunkle lebend, aber was war mit Maljen? Meine Ãngste um meine eigene Zukunft hatten mich so beschäftigt, dass ich bisher keinen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte, was Maljen getan oder aus freiem Willen aufgegeben hatte. Der Rückweg in die Armee oder zu seinen Freunden war ihm für immer versperrt und seine Leistungen als Fährtenleser würden nie mehr gewürdigt werden. Ja, schlimmer noch: Er hatte sich der Fahnenflucht schuldig gemacht, vielleicht sogar des Verrats, und auf beides stand die Todesstrafe.
Bei Anbruch der Abenddämmerung erreichten wir eine Höhe, auf der es nicht einmal mehr Krüppelbäume gab. Hier hielt sich stellenweise sogar noch der Winterfrost. Wir nahmen ein karges Mahl aus Hartkäse und zähem Dörrfleisch zu uns. Da Maljen ein Feuer immer noch für zu riskant hielt, kauerten wir uns stumm unter die Decke, hielten Abstand zueinander, zitterten im heulenden Wind.
Ich war schon fast eingedämmert, da sagte Maljen: »Morgen führe ich uns nach Norden.«
Ich riss die Augen auf. »Nach Norden?«
»Nach Tsibeja.«
»Willst du etwa den Hirsch suchen?«, fragte ich ungläubig.
»Ich kann ihn finden, das weià ich.«
»Falls der Dunkle ihn nicht schon entdeckt hat.«
»Nein«, sagte er und ich merkte, wie er den Kopf schüttelte. »Der Hirsch ist noch in Freiheit. Das spüre ich.«
Seine Worte erinnerten mich in unguter Weise an das, was der Dunkle auf dem Weg zu Baghras Hütte gesagt hatte: Der Hirsch ist dir bestimmt, Alina. Das spüre ich.
»Und wenn der Dunkle uns vorher fasst?«, fragte ich.
»Du kannst nicht dein Leben lang wegrennen, Alina. Du hast gesagt, der Hirsch könne dir Macht verleihen. Genug Macht für den Kampf gegen den Dunklen?«
»Vielleicht.«
»Dann müssen wir es tun.«
»Wenn er uns findet, wird er dich töten.«
»Ich weiÃ.«
»Bei allen Heiligen, Maljen. Warum bist du mir gefolgt? Was hast du dir dabei gedacht?«
Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen Haare. »Gar nichts. Wir waren schon auf halbem Weg nach Tsibeja, als wir den Befehl erhielten, dich aufzuspüren. Da habe ich kurz entschlossen gehandelt. Am schwierigsten war es, die anderen von deiner Fährte wegzulocken, vor allem nach deinem groÃen Auftritt in Rjewost.«
»Und jetzt bist du ein Fahnenflüchtiger.«
»Genau.«
»Und ich bin der Grund.«
»Ja.«
Meine Kehle brannte und ich hätte am liebsten geweint, aber ich konnte gerade noch verhindern, dass meine Stimme bebte. »Was geschehen ist, lag nicht in meiner Absicht.«
»Ich fürchte den Tod nicht, Alina«, sagte er mit dieser kalten, ruhigen Stimme, die mir so fremd war. »Aber ich möchte nicht, dass wir kampflos aufgeben. Wir müssen den Hirsch finden.«
Ich dachte lange über seine Worte nach. SchlieÃlich flüsterte ich: »Einverstanden.«
Als Antwort hörte ich nur ein Schnarchen. Maljen war schon eingeschlafen.
Während der nächsten Tage legte er ein brutales Tempo vor, aber mein Stolz, vielleicht auch meine Angst verhinderten, dass ich ihn bat, langsamer zu gehen. Manchmal sahen wir eine Gämse, die weiter oben über die Hänge sprang, und an einem Abend lagerten wir an einem azurblauen Bergsee, aber das waren seltene Abwechslungen in der Monotonie grauer Felsen und eines bedeckten Himmels.
Maljens grimmiges Schweigen war auch keine Hilfe. Ich hätte gern gewusst, warum ausgerechnet er den Hirsch für den Dunklen hatte aufspüren sollen und wie sein Leben während der letzten fünf Monate ausgesehen hatte, aber er antwortete nur mürrisch und einsilbig und manchmal beachtete er mich überhaupt nicht. Wenn ich besonders müde oder hungrig war, starrte ich vorwurfsvoll seinen Rücken an und erwog, ihm kräftig auf den Kopf zu schlagen, damit er mir endlich Aufmerksamkeit schenkte. Aber meist machte ich mir Sorgen â dass Maljen es schon bereute, mit mir zu gehen, oder dass wir den Hirsch in den Weiten Tsibejas nicht finden würden. Aber meine gröÃte Sorge galt der Frage, was der Dunkle Maljen antun würde, wenn wir ihm in die Hände fielen.
Als wir am nördlichen Rand des Petrazoj mit dem Abstieg
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