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Größenordnung Götterwind

Größenordnung Götterwind

Titel: Größenordnung Götterwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K. H. Scheer
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bemerken, daß mein neu es Gesicht ganz anders reagierte. Das war kein Lächeln mehr, son dern ein wölfisches Grinsen.
    »Raten Sie mal, Toterlay! Ich könnte Ihnen noch tausend andere Dinge nennen, die Sie, wie Sie meinen, in Ihrem glänzend funktionierenden Gedächtnis vergraben haben. Als Sie beispielsweise auf einer Müllhalde ein kläglich schreiendes Neugeborenes fanden, nahmen Sie es mit.«
    »Allgemein bekannt.«
    »Das ja! Die Mutter, die nur biologisch eine Mutter war, hatte das verunstaltet zur Welt gekommene Baby ausgesetzt; an einem unwürdigen Ort. Sie suchten und fanden die Frau. Das ist menschlich verständlich, denn eigentlich sind Sie ein feiner Kerl. Ich finde es aber gar nicht fein, daß Sie die Frau getötet und in einem Behälter mit verflüssigtem Stahl bestattet haben. Das war mindestens Totschlag, wenn nicht gar Mord. Soll ich Ihnen sa gen, wie Sie die junge Frau tituliert haben? Wollen Sie wissen, daß Sie von einer Hinrichtung sprachen?«
    Der Hüne wankte. Das Mahagonigesicht war leichenblaß geworden.
    »Sie gehören eingesperrt, aber ich bin nicht Ihr Richter. Immerhin haben Sie das Kind aufgezogen. Sie nannten es wegen seiner schweren Körperschäden sinnigerweise Quasimodo. Der bürgerliche Name war ebenfalls typisch für Ihren seltsamen Humor. ›Robinson‹ tauften Sie den Kleinen. Der Nachname ›Skydoor‹ ist bezeichnend für Ihre gotteslästerliche Gesinnung. Toterlay, Sie sind eine Mischung aus Urmenschenhäuptling mit angemaßten Machtbefugnissen – ein Kumpel, mit dem man Gäule stehlen kann und auch ein Genie. Sie können jetzt gehen. Bitte!«
    Die beiden Kollegen umfaßten seine mächtigen Oberarme und drängten ihn auf die Tür zu. Ich konzentrierte mich auf seinen Bewußtseinsinhalt, besonders aber auf die tiefsten Tiefen seines organischen Gedächtnisspeichers.
    Er hatte recht: Wenn ich ihn darstellen wollte, mußte ich jede Einzelheit aus seinem Leben kennen. Ich hatte ihn vierzehn Tage lang studiert. Die Daten hätten, wären sie schriftlich niedergelegt worden, Bände gefüllt. Sein Innenleben war kein Geheimnis mehr.
    Hannibal war in ähnlicher Weise vorgegangen. Er wußte alles über Quasimodo.
    Im Gegensatz zu dem impulsiven Toterlay hatte sich der Verwachsene in Schweigen gehüllt. Das hatte ihm nichts genützt. Keiner von beiden ahnte, daß wir Telepathen waren. Diesmal hatten wir unsere Fähigkeiten rücksichtslos eingesetzt. Abgründe, aber auch menschliche Großtaten waren ans Tageslicht gekommen.
    Ich hatte Toterlay poltern, höhnen und toben lassen. Je mehr er aus sich herausging, um so besser hatte ich ihn sondieren können. Auch das ahnte er nicht.
    Nun hatte er eine bittere Lehre erhalten. Ich konnte plötzlich in die letzten Sektoren seines Unterbewußtseins vordringen und dort Dinge entdecken, die mir bislang noch fremd gewesen waren. Es drehte sich hauptsächlich um seine intimsten Pläne. All seine Wunschträume lagen offen vor mir, aber auch all seine innersten Ängste.
    Ein wirklich verdorbener Übeltäter war er nicht. Was er getan hatte, war entweder aus Übermut oder aus Überzeugung geschehen. So auch die Gewalttat an Quasimodos Mutter. Das war ein Fall für den Psychiater. Ich dagegen mußte wissen, warum er so gehandelt hatte.
    Ich erfuhr auch, daß die Priester des Sehenden Calthur über einige seiner Gesetzesübertragungen informiert waren und dafür sogar handfeste Beweise hatten. Also hatten sie ihn in der Hand. Daraus wurde ersichtlich, warum er, der Freidenker, sich einem gewissen Organisationszwang unterworfen hatte.
    Daten dieser Art gab es noch Hunderte. Sie waren alle wichtig.
     
    Hannibal suchte mich eine Stunde später in meinem Appartement auf. Es war großzügig eingerichtet und stellte eine Mischung aus Krankenzimmer und Büro dar.
    Es war 11 Uhr, am 10. Juni 2011. Auf dem Bildschirm der Türsicherung erschien ein verunstaltetes Gesicht; breit, quallenartig, mit nach links hängender Unterlippe und einem rechtsseitigen Triefauge von blutroter Färbung. Schwarze, strähnige Haare bedeckten kaum die fliehende Stirn.
    »Quasimodo, Glöckner von Notre-Dame, bittet untertänigst um Einlaß«, klang es aus dem Lautsprecher. Hannibals neue Stimme hörte sich pfeifend an. Er hatte an chronischer Luftnot zu leiden.
    Ich drückte auf den Öffnungskontakt. Die beiden Stahltüren der Sicherheitsschleuse fuhren zurück. Sie waren ebenfalls für den »radioaktiven Ernstfall« gedacht gewesen.
    Er schlurfte ins Zimmer. Die langen, kräftigen

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