Größenwahn
Zuges von Waverly Station, Edinburgh, nach Queensserry schwenkte eben zum ersten Mal seine rothe Signal-Fahne, als ein schäbig-genteel aussehendes Individuum, mit einem altmodischen Ueberzieher und blauen Brillengläsern geschmückt, keuchend und stolpernd an den Schalter stürzte.
»Ein Billet II. Classe nach – nach –« »Herr, wonach denn?« schrie der ungeduldige Beamte. Ein verlegenes blödes Lächeln verdummte die Züge des seltsamen Fahrgastes. »Ich – ich glaube – vergessen,« stammelte er schüchtern und sah sich wie hilfesuchend um.
»Ist der Mensch verrückt?« schnaubte ein Dragoneroffizier, der ebenfalls unpünktlich, athemlos nachdrängte. Wahrscheinlich wäre der Vergeßliche hinausgeworfen, hätte nicht eine wohlwollende Stimme hinter ihm ausgeholfen: »Nach Queensferry, nicht wahr? – Rasch, Schaffner. Hier ist's Geld. – Hier nehmt's Billet, Mann, und bezahlt mich nachher. Sie verlieren ja doch sonst Ihr Geld beim Aufzählen. So.
All Right. Come along, Mr. Goodenough.
« Damit riß der Retter in der Noth den Andern Arm in Arm mit sich fort, schleuderte ihn
sans façon
in ein Coupé zweiter Classe und bestieg selbst ein solches mit der Nr. I.
»Was, Prevost?« 1 keuchte ihn der nachstürzende Dragoner beim Einsteigen an. »Ist das der bekannte Schriftsteller Goodenough? Hätt's mein Lebtage nicht geglaubt.«
»Ja wohl, ja wohl, passirt gewöhnlich!« nickte Jener, ein Mann, dessen Züge, die (sei es durch seine Beschäftigung mit Hammelzüchtung, sei es durch seine Vorliebe für Hammelbraten) eine eigenthümliche Aehnlichkeit mit diesem britischen Nationalthier zeigten, von einem stereotypen wohlwollenden Lächeln verklärt waren.
»Ist ja Ihr Unterthan, nicht, Prevost?« fragte ihn ein gegenübersitzender Herr – ein Landsquire aus Dundee mit dem Aeußern eines Methodisten.
»Ja, seit zwei Jahren!« erwiderte der Großmächtige mit seiner mehligen Stimme. »Lebt bei uns – sehr abseits vom Verkehr natürlich. Wißt Ihr, was Goodenoughs erste Frage an mich war, als wir uns kennen lernten? Wie ich noch immer Sonntags die Kirche besuchen könne!«
Der Junker mit dem schäbigen umflorten Cylinder, dem tadellos schwarzen Anzug und der Leichenbittermiene, schauderte gottesfürchtig.
»O das ist ja grauenhaft. Der Mensch ist ein Atheist?!«
»Nicht grade das. Nur bis zur Tiefe des Freireligiösen gesunken. Er ist kein Christ mehr. Dabei ein schauderhafter Republikaner. Shelley ist sein Ideal.«
»Gott erhalte den König!« summte der Dragoner. »Und ist doch sonst ein gutmüthiger Mensch, der kein Wässerchen trübt, nicht?«
»O nicht auf dem Papier – da vergießt er Blut. Er ist ja so rother Socialist, daß er zwei Prozesse wegen politscher Pamphlete zu bestehen hatte – und das will bei uns etwas sagen. Seine Brochüre über ›Frauenemanzipation und freie Liebe‹ wäre ja beinahe unterdrückt, wegen sittlicher Bedenken der Polizei.«
»Haarsträubend! Freie Liebe?!« kreischte der Leichenbitter auf, der sich einer beträchtlichen Häßlichkeit befleißigte. »Was versteht er darunter? Umsturz aller häuslichen Bande, Zerreißung des heimischen Heerdes?«
»Nun, ich glaube nicht, daß er seine Grundsätze in der Praxis – fühlen möchte. Denn er ist selbst seit einem Jahr sehr verheirathet.«
»Aha! Das wird eine hübsche Häuslichkeit sein.«
»Freilich ist sie das,« nickte der Prevost ernsthaft. »Er soll jedem Fremden von seiner Wally die Ohren vollschwatzen. Er ist im Grunde ein sentimentaler Patron und hat eben nur von Allem überspannte Begriffe.«
Als man in Queensferry ausstieg, nahm der dicke Bürgermeister den armen Sünder unter den Arm, mit dem er auf dem Fuße gutmüthiger Herablassung verkehrte, und Beide, nach Hause wandernd, waren bald in ein Gespräch über ethische Dinge vertieft. Der Prevost klagte über eine gottverlassene schottische Landstadt, von der er vernommen, daß dort 17 Public-houses der Trunksucht und keine Kirche der Gottesfurcht Vorschub leisteten.
»Das wäre Alles noch nicht so schlimm,« meinte Goudenough. »Aber denken Sie an London! 6000 Personen in 11 Straßen und 2 ›Höfen‹ (Courts)! In einzelnen kleinen Häusern 50 – sage fünfzig – Insassen! Wo soll das hinführen! Dies Elend muß ja zu einer socialen Umwälzung hindrängen!«
In diesem Moment kamen sie an einem offenen Häuschen vorbei, welches Methodisten als abendliche Bethalle benützten. Deutlich hörte man durch die halbgeöffneten Fenster die näselnde Stimme
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