Größenwahn
unverdrossenen Chauvinisten lehren! Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten. – Meine Auffassung setzt Sie in Erstaunen?«
»Allerdings, ein wenig.« erwiderte der Brite kalt.
»Man überschätzt Deutschlands Macht gewiß,« fiel Miß Maud Egremont ein, die sich soeben zu den Herren setzte, um an dem Gespräch theilzunehmen. »Ich bin überzeugt, wenn französische Truppen erst mal den Rhein überschreiten, fällt der Bundesstaat auseinander.«
Krastinik schüttelte den Kopf. »Täuschen wir uns nicht! Ein Ausländer hat meist gar keinen Einblick in die wahren inneren Verhältnisse eines Staates. Weil man im Deutschen Reichstag sich zankt, glauben die Fremden sozusagen an Keime zum Bürgerkrieg. Bedenken Sie, daß Napoleon III. allen Ernstes 1870 auf die Neutralität der Süddeutschen rechnete. – Kurz, ich fürchte, die Chauvinisten der Patriotenliga, die Boulangers und Deroulédes, machen sich um ihr Vaterland nicht wohlverdient durch ihr windiges Gerede über ihre Besieger, wodurch sie eigentlich nur sich selbst herabsetzen, da diese miserablen Soldaten doch Frankreich Stück für Stück zerbrachen, obschon es den äußersten Widerstand bis zu gänzlicher Erschöpfung ihnen entgegensetzte. Er entschuldigt höchstens, daß man in aller Einfalt das unpatriotische Verbrechen begeht, falsche Vorstellungen und luftige Hoffnungen vorzuspiegeln. Nach solchen Reden und Brochüren muß das revanchelustige Volk ja glauben, daß man heut mit mehr Recht, denn je, von einer Militär- ›
A Berlin
‹ reden könne. Wir wollen den Maulhelden nicht wünschen, daß sie die deutschen Bajonette in der Nähe schmecken lernen. Das Lachen würde ihnen dann wohl vergehn.«
»Nun, eins können Sie doch nicht leugnen,« wandte Mr. Egremont ein, »daß die Deutschen stets über eine große Uebermacht verfügten.«
»Hm, ich weiß nicht. Wie steht es mit dieser angeblichen Uebermacht? In der zweiten Hälfte des Feldzugs war sie durchweg (zweifach, dreifach, manchmal vier- und fünffach) auf Seiten der Franzosen. Bei Weißenburg, Wörth, Spicheren, Gravelotte wurde die deutsche Ueberlegenheit an Truppen nicht nur aufgewogen durch unerhört starke Stellungen des Feindes, sondern an allen einzelnen Entscheidungspunkten war die Uebermacht ganz auf französischer Seite. Bei Vionville standen die Franzosen an den meisten Punkten mit sechsfacher Uebermacht entgegen, so daß ein deutsches Regiment gegen zwei Divisionen, eine Brigade gegen ein und einhalb Armeecorps kämpfte; ja, am Abend, als alle Verstärkungen eingetroffen, war Bazaine immer noch ums Doppelte überlegen. Und nun Sedan! Darüber herrschen vielfach falsche Begriffe. Mac Mahons Armee betrug gegen 130000 Mann, was aus Addition des Schlachtverlustes, der Kapitulirenden und der über Belgien und Mezières Entkommenen sich leicht ergiebt. Von deutschen Corps kämpften in der Schlacht selbst höchstens 150000 Mann. Da nun die Franzosen im Innenkreis in dicken Massen standen, so haben sie zweifellos in der Schlacht selbst überall Uebermacht gehabt gegen die dünnen Linien der Deutschen auf der Peripherie. So zerrinnt das Märchen von der deutschen Uebermacht ins leere Nichts.«
»Also war es die deutsche Führung, Count de Rasteinik.« Egremont gab mit großer Wichtigkeit das entscheidende Votum des freien Briten ab: »Moltke ist der erste Feldherr Europas.«
»Hm.« Krastinick schüttelte leicht, den Kopf. »Ob die Generale den Löwenantheil des Sieges beanspruchen dürfen, weiß ich noch nicht einmal. So vortrefflich die Kaiserlich Napoleonische Armee sich schlug, so war wohl auch das Material der Deutschen in jeder Einzeltruppe ein besseres. Nicht auf dem System Moltkes, wovon die Franzosen so viel Unklares träumen, nicht auf der Führung des Großen Generalstabes, die ja ebenso gut Schnitzer machte wie die französische Oberleitung, sondern auf der kriegerischen Natur der Deutschen beruht der Erfolg Deutschlands.« Er verbreitete sich noch weitläufig über die Autoritätsmichelei, die immer nur »oben« das Verdienst sucht, und über die völlige Unfähigkeit der französischen Führung und Intendantur, trotz welcher aber das kaiserliche Heer, wegen Geschicklichkeit und Bravour der Truppen selbst, einen furchtbaren Widerstand leisten konnte. Das Alles war den Hörern ganz neu und erregte ungläubiges Staunen, was im Laufe des folgenden Gesprächs sich zu einer gewissen Mißbilligung steigerte. Wer etwas Neues sagt, gilt stets für paradox; wer liebgewordene Vorurtheile
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