Gromek - Die Moral des Toetens
auch nur namentlich
bekannt geworden war, musste ihnen von der israelischen Botschaft an gefolgt
sein. Als sie mit ihrem Mann und den anderen im Restaurant saß, stürmten vier
maskierte Gestalten herein und eröffneten das Feuer. Lisa war die einzige, die
das Attentat schwerverletzt überlebte.
Gleichzeitig mit der Nachricht von Davids Tod bekam sie die
Mitteilung, dass sie schwanger war.
Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie
noch über ein Jahr in psychologischer Betreuung verbringen müssen. Die Sektion¬4 hatte ihren Aufenthalt in einem Sanatorium in der Schweiz finanziert, wo sie
schließlich auch Daniel gesund zur Welt brachte.
Erst eineinhalb Jahre nach dem Attentat fühlte sich Lisa so weit
gefestigt, dass sie Einsicht in die als geheim eingestuften Untersuchungsprotokolle
nehmen konnte. Den Akten entnahm sie, dass David, seine Schwester Sharon und
die beiden Botschaftsangehörigen, die lediglich höhere Verwaltungsbeamte
gewesen waren und keinem Geheimdienst angehört hatten, jeweils von mehr als 30
Kugeln durchsiebt worden waren. Lisa ihrerseits hatte das komplette 14-Schuss-Magazin
ihrer SIG-Sauer P 228 Compact geleert und »... mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit zwei, möglicherweise drei der Attentäter schwer
verletzt. Ihre Identität ist bisher unbekannt. Vermutungen über die
Nationalität der Attentäter können aufgrund mangelnder Beweislage nicht
angestellt werden.«
Der Bericht endete in reinsten Beamtendeutsch: »Konkrete Hinweise
darauf, dass die Attentäter aus dem arabischen Raum stammen könnten, liegen
nicht vor.«
Lisa kehrte in die Gegenwart zurück. Die Zeichentrickserie war zu
Ende, und damit auch die traute Zweisamkeit von ihren Kindern. Diesmal stritten
sie sich um die Fernbedienung. Lisa zitterte. Das alles war einfach zu viel für
ihre Nerven. Trotzdem musste sie sich auf jeden Fall beherrschen. Auf jeden ...
»Könnt ihr nicht verdammt noch einmal ruhig sein?!« bellte sie die
beiden an. »Müsst ihr euch wegen jeder Kleinigkeit streiten?!«
Daniel und seine Schwester fuhren zusammen, erschreckt über den
groben Ton, den sie an ihrer Mutter nicht kannten. Der Blick aus ihren Augen
tat Lisa in der Seele weh. Mühsam hielt sie die Tränen zurück und fragte mit
seltsam abgehackter Stimme: »Was haltet ihr davon, wenn ich euch morgen zur
Schule fahre?«
Am nächsten Morgen lieferte Lisa Daniel und Julia zehn Minuten vor
acht an der Schule ab. Beim Aussteigen ermahnte sie beide, artig zu sein und
aufmerksam den Unterricht zu verfolgen. Wehmütig sah sie ihren Kindern
hinterher, bis sie in der Menge der anderen Schüler verschwunden waren. An
manchen Tagen hätte Lisa viel darum gegeben, selbst noch einmal Kind sein und
ihr Leben von vorn beginnen zu dürfen. Sie unterdrückte einen Seufzer. Dann
warf sie einen Blick auf ihre Herrenarmbanduhr israelischer Herkunft, ließ
ihren zehn Jahre alten, kantigen weißen Jeep Cherokee an und machte sich
auf den Weg zu einem Routineauftrag, der von der Sektion¬4 schon vor Wochen
vorbereitet worden war.
Sie verließ Wilmersdorf, durchquerte den Bezirk Tiergarten in
Sichtweite der Siegessäule und des Ost-Berliner Fernsehturms mit der markanten
runden Kugelform und fuhr nach Reinickendorf. Ihr Ziel war der Flughafen
Berlin-Tegel, der größte der drei Flughäfen der Stadt.
Als Lisa eine gute halbe Stunde später den Tower des Flughafens
erblickte, zog dahinter gerade eine silbern in der Vormittagssonne glänzende
Airbus-Maschine in den wolkenlosen Himmel. »Es muss eine A300 sein«, dachte
sie. »270 Sitzplätze, Reichweite 6.300 Kilometer, Reisegeschwindigkeit 860
Kilometer pro Stunde, Spannweite 44,84 Meter; oder waren es 45,84 Meter?
Jedenfalls, die A300 ist 54,08 Meter lang.« Da war sie sicher.
Sie beugte sich tief über das Lenkrad ihres Jeeps, um dem Flugzeug
so lange wie möglich nachsehen zu können.
Lisa wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihren Kindern in
einem der Flieger sitzen zu können, deren blitzende Leitwerke sie eines nach
dem anderen erblickte, während sie in eleganten Kurven vom Start in Richtung
ihrer fernen Ziele schwenkten. Sie war überzeugt, dass niemand außer ihr so oft
den Flughafen betrat, ohne irgendwohin zu fliegen.
Über 20 Großraummaschinen verschiedener Nationalitäten zählte sie
auf dem Rollfeld. Darunter war sogar eine Boeing 747 der Singapore -Airlines.
»367 Sitzplätze, plus zwanzig First-Class-Sitze«, spulte Lisa ihr Wissen ab,
ähnlich
Weitere Kostenlose Bücher