Gromek - Die Moral des Toetens
wie ein Computer, ohne es wirklich zu registrieren. »Reichweite 10.800
Kilometer, Reisegeschwindigkeit ... Ach, vergiss' es doch!« fluchte sie leise.
»Mir würde es schon genügen, wenn ich blind mit dem Finger auf eines dieser
Wunder der Technik zeigen und dann damit wegfliegen dürfte.«
Jedes Ziel wäre ihr recht gewesen. Ob es nun Abu Dhabi hieße und
im Persischen Golf läge oder Larnaka an der Südküste von Zypern. »Hauptsache
weg!« Natürlich wusste sie, dass das nicht so einfach ging. Doch wer fing nicht
an zu träumen, wenn er jahrelang auf einen Flughafen fuhr, den Flugzeugen
nachschaute und genau wusste, dass er jedes einzelne Mal nach einer Stunde
wieder gehen musste, ohne jemals mitfliegen zu dürfen?
Lisa steuerte einen Parkplatz an, stellte ihren Wagen ab, stieg
aus und schritt auf einen Parkscheinautomaten zu. Direkt vor ihr stand ein Mann
in einem taubengrauen Anzug. Er griff in den Ausgabeschacht des Automaten, dann
drehte er sich wortlos um und ging. Lisa warf eine Münze ein und drückte einen
Knopf. Gleichzeitig mit ihrem Parkschein entnahm sie einen kleinen, mehrfach
gefalteten Umschlag.
Ohne Zeit zu verlieren, begab sie sich durch das sechseckige Abfertigungsgebäude
zu den Schließfächern. Wahrscheinlich war sie die einzige Berlinerin, die
diesen Weg auch in völliger Dunkelheit gefunden hätte, und das aus allen
möglichen Richtungen. Denn zuweilen kam es vor, dass sie Berlin-Tegel bis zu
vier Mal pro Woche aufsuchen musste, wobei die Hauptanstrengung der jeweiligen
Aktionen für sie darin bestand, weder den Zeitungsverkäuferinnen, Restaurantangestellten
und Zollbeamten oder dem Bodenpersonal der verschiedenen Airlines aufzufallen,
noch mit irgendwelchen auf dem Gelände des Flughafens beschäftigten Personen in
Kontakt zu kommen.
Als Lisa den Trakt mit den Schließfächern erreicht hatte, ahnte
sie schon, welches der in Frage kommenden Fächer sie gleich öffnen würde. Heute
war es das Fach mit der Nummer 205. Es war eines von rund 25 Schließfächern,
die sich die Sektion¬4 mit anderen Bundesbehörden teilte. Dabei
handelte es sich um 200er-Nummern, deren Benutzung durch normale Reisende und
Touristen nicht möglich war. Die Berliner Stadtpolizei hatte gleichfalls
Schließfächer zugesprochen bekommen, die jedoch, wie Lisa einmal durch Zufall
erfahren hatte, jenseits von Fach Nummer 500 lagen. Diese befanden sich vier
Reihen weiter hinten, was nur von Vorteil sein konnte. So kam man sich gar
nicht erst in die Quere.
Lisa wickelte den Umschlag auf, den sie von dem Mann am Automaten
erhalten hatte, einem der zahllosen Sherpas der Sektion-4 , die für
jeweils läppische Summen Handlangertätigkeiten übernahmen, ohne lästige Fragen
zu stellen. In ihre offene Hand fiel ein kleiner, fleckiger Schlüssel, der
sich in nichts von allen anderen unterschied. Ohne nach links oder rechts zu
sehen, schloss Lisa Fach 205 auf und fand einen handlichen Aluminium-Koffer
vor, der sich mit entsprechender Inneneinteilung auch für eine Fotoausrüstung
geeignet hätte. Sie nahm den Koffer, schloss das Fach wieder ab und begab sich
zu einer etwa 40 Meter entfernten Damentoilette.
Lisa schritt durch den Waschraum, an zwei anderen Frauen vorbei,
öffnete die Tür einer Kabine und arretierte den abgeschabten, matt schimmernden
Riegel. Es erfüllte sie jedes Mal auf's neue mit Unbehagen, eine öffentliche
Bedürfnisanstalt als Umkleideraum zu benutzen, aber zu ihrem Bedauern leuchtete
es ihr ein, dass dies die naheliegendste und praktischste Verfahrensweise war.
Sie rüttelte noch einmal an der Tür, um sich zu vergewissern, dass diese
tatsächlich schloss und sie mit der Arbeit beginnen konnte. Ächzend wand sich
der rostige Metallriegel in seiner Verankerung und zeigte beachtlichen
Spielraum, hielt dem Geschüttel aber tapfer stand.
Lisa öffnete den Koffer.
Der Inhalt bestand aus einer Stewardessenuniform der Lufthansa ,
einer Perücke mit schulterlangen, kastanienroten Haaren und einem Dienstausweis
mit Foto, auf dem Lisa mit Perücke und Uniform abgebildet war, außerdem einem
Ohrstecker mit Empfänger, zwei Schlüsseln an einem Ring und dem
postkartengroßen Foto eines Südamerikaners. Lisa prägte sich das Bild ein. Das
Äußere des Neuankömmlings ließ sie auf eine peruanische oder brasilianische
Herkunft tippen. »Beides Länder für die ich mich durchaus erwärmen könnte. Aber
was wäre mit Daniel und Julia? Sie müssten eine fremde Sprache lernen, neue
Freunde finden ...«
Lisa
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