Gromek - Die Moral des Toetens
kleine Nase krauszog und die
Zungenspitze aus dem Mund herausstreckte.
»Streber, Streber«, konterte Daniel und verzog ebenfalls das Gesicht.
Als sich Gromek am Frühstückstisch neben Daniel niederließ,
verstummte dieser und hörte bis auf weiteres auf, seine Schwester zu ärgern.
Stattdessen übte er sich darin, Gromeks Gedanken zu erraten und reichte diesem
nacheinander den Brotkorb und die Butter, außerdem Milch und Zucker für den
Kaffee.
»Danke, sehr aufmerksam von Dir«, lobte Gromek und nickte dabei
leicht mit dem Kopf. Er versah seinen Kaffee mit reichlich Milch und einem
Stück Zucker. Normalerweise trank er Kaffee nur ungesüßt, aber heute hielt er
es für angebracht, dem Jungen eine kleine Freude zu machen, um ihm die
Eifersucht auf seine Schwester zu nehmen.
20 Minuten später waren sie mit dem Frühstück so gut wie fertig.
Während die Kinder das Geschirr in die Maschine stellten, tranken die beiden
Erwachsenen ihren letzten Schluck Kaffee. Wortlos sahen sie einander an und
senkten dann, jeder für sich, den Blick, um noch für einen kurzen Moment den
eigenen Gedanken nachzuhängen.
Als sie sich vom Tisch erhoben, waren sie bereit für einen Tag, der
nicht leicht werden würde.
An diesem Morgen rasierte Viktor Kilar sich nicht, wie gewohnt, zu
Hause, sondern in einer kleinen Nasszelle, die zu seinem Büro gehörte. Er
hatte auf einem schmalen Bundeswehr-Feldbett genächtigt.
Die zwei Stunden auf dem Feldbett hatten die Bezeichnung ›Schlaf‹
nicht verdient. Nach der sorgfältigen Lektüre des Untersuchungsberichts über
die in Alexander Holtz' Wohnung gefundenen Spuren war er zum Erstellen einer Liste
aller Telefonate übergegangen, die er seit dem Besuch von Michael Gromek in
seinem Büro empfangen oder selbst getätigt hatte. Diese Liste umfasste das
Datum des Telefonats, die Dauer, den Inhalt und den Namen des jeweiligen
Gesprächspartners. Fein säuberlich hatte Viktor Kilar etwa 120 Einträge in
seinen Computer getippt und ausgedruckt. Er ging davon aus, dass es noch
weitere 25 bis 35 Gespräche gewesen waren, er sich aber ihrer mangelnden Bedeutung
wegen nicht mehr an sie erinnern konnte. Daneben erstellte er eine zweite,
wesentlich kürzere Liste mit den entsprechenden Angaben zu allen Besuchern, die
ihn während der letzten Tage in seinem Büro konsultiert hatten.
Nachdem er die beiden Listen auf Direktor von Eckersdorff'
Schreibtisch gelegt hatte - das musste gegen vier Uhr morgens gewesen sein -
war er zurück in sein Büro gekommen, um sich die Akte mit der Bezeichnung
›Operation Alamut‹ anzuschauen. Für deren Lektüre hatte er eine gute Stunde
benötigt.
Mit einem frischgewaschenen Handtuch trocknete er sich Kinn und
Wangen ab. Ein Schnitt, den er sich vor Müdigkeit mit der scharfen Klinge
zugefügt hatte, flammte schmerzhaft auf und versetzte ihm einen unangenehmen
Stich.
Seine Gedanken kreisten noch immer um Michael Gromek. Nicht nur, dass
ihn dieser Mann um seine Nachtruhe gebracht hatte. Nein, es war noch schlimmer:
Von Anfang an war Kilar überzeugt gewesen, dass Gromek die falsche Wahl
darstellte. Diese Vorahnung bestätigte sich jetzt weitaus deutlicher, als ihm
lieb war. Zum wiederholten Male fragte er sich, warum er sich vor einigen Tagen
mit einer Beförderung hatte ködern lassen, anstatt Direktor von Eckersdorff
mehr Widerstand entgegenzubringen. Dieser Fehler rächte sich nun bitterlich.
»Was nützt mir die schönste Beförderung«, dachte Kilar, »wenn ich
wegen einer missglückten Operation meinen Posten abgeben und den vorzeitigen
Ruhestand antreten muss!?«
Er trat aus der Nasszelle. Während er mit einer Hand über die
wieder glatte Haut seines Gesichts strich, setzte er sich an seinen
Schreibtisch. Er nahm die Akte mit dem Titel ›Operation Alamut‹ in die Hand,
die ihn hoffentlich bald endgültig von seinen Existenzsorgen befreien würde. Er
kannte sie inzwischen beinahe auswendig. Direktor von Eckersdorff hatte in der
Tat ganze Arbeit geleistet.
Die Akte, die etwa 50 Berichte und eine Handvoll weiterer
Dokumente umfasste, wies Gromek als den Mörder von mehr als zehn Menschen
allein in diesem Jahr aus. Die letzten Eintragungen waren besonders
detailliert: Maurice-Eric LaSalle, ein idealistischer Rebellenführer auf den
Komoren, war am Stadtrand von Moroni von Michael Gromek brutal ermordet worden.
Kaltblütig hatte er Stephan Freiherr von Hohenfels-Selm niedergestreckt, der
als Referent für Bundesinnenminister Dr. Hubertus Steinhammer
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