Gromek - Die Moral des Toetens
Kinder zwischen sechs und elf
Jahren, und auf zwei Quälgeister mehr oder weniger kam es ihr nicht an.
Gromek lehnte einige Meter entfernt am Kotflügel seines Wagens und
wartete darauf, dass Lisa sich von ihrer Freundin verabschieden würde. Er wusste
nicht, was die Frauen miteinander besprachen. Nur einzelne Fragmente des
Gespräches drangen bis zu ihm herüber, durchsetzt von Gerdas sächsischem
Dialekt. Am liebsten hätte er sich in den Wagen gesetzt und das Radio
angestellt, um Gerdas Worte nicht mehr hören zu müssen. Doch das wäre unhöflich
gewesen.
Gerda ihrerseits hatte außerordentliche Mühe, die Augen von Gromek
zu lassen. Ihr gefiel es, wie er an dieser sündhaft teuren Limousine lehnte,
die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen hinter einer Sonnenbrille
verborgen. Er strahlte eine gewisse Unnahbarkeit aus, die - was Gerda nicht
wissen konnte - typisch für ihn war, wenn es galt, eine gefährliche Operation
in Angriff zu nehmen. Bei aller Freundschaft musste Gerda sich eingestehen: Die
Tatsache, dass ihre Freundin Lisa offensichtlich den ganzen Tag mit diesem Mann
verbringen würde, erfüllte sie mit Neid.
Als Lisa sie zum Abschied umarmte, flüsterte sie ihr noch schnell
ins Ohr: »Dein Begleiter scheint mir ein interessanter Mann zu sein. Wenn er Dir
jemals langweilig werden sollte - sei so lieb und denk an mich!«
»Ich werde an dich denken«, flüsterte Lisa lächelnd zurück. »Aber,
Gerda, Schätzchen, rechne nicht zu sehr damit.«
Lisa ging in die Knie, um erst ihre Tochter, dann ihren Sohn in
ihre Arme zu schließen und zum Abschied zu küssen. Dem war die Umarmerei und
Knutscherei seiner Mutter - auch noch in aller Öffentlichkeit - unangenehm,
doch an diesem Morgen leistete Daniel keinen Widerstand. Instinktiv schien er
zu spüren, dass es hier um etwas ging, wovon er und seine Schwester besser
nichts wissen sollten.
»Also, ihr zwei, seid brav und macht Gerda das Leben nicht allzu
schwer.«
»Wir doch nicht«, empörte sich Daniel ob dieser infamen und
selbstverständlich völlig unbegründeten Unterstellung seiner Mutter.
»Bestimmt nicht«, pflichtete die kleine Julia ihrem Bruder treuherzig
bei. Und im Brustton der Überzeugung setzte sie nach: »Auf uns kannst Du dich
verlassen, Mami. Ganz bestimmt.«
Als Lisa neben Gromek Platz genommen hatte und dieser den Wagen
anließ, machten sich Julia, Daniel und Gerda einen Spaß daraus, ihnen
nachzuwinken. »Auf Wiedersehen, Mami. Auf Wiedersehen, Herr Gromek«, riefen die
Kinder lachend und hüpften albern herum. Sie waren fest überzeugt, ihre Mutter
und deren netten Arbeitskollegen schon bald gesund und munter wiederzusehen.
Bevor Gromek um eine Ecke bog, schaute er noch einmal in den
Rückspiegel. Er fuhr absichtlich langsam, um vielleicht ein letztes Mal zwei
liebenswerte Kinder zu betrachten, die nichtsahnend neben ihren kleinen Koffern
standen und ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Unter keinen Umständen, ging
es ihm durch den Kopf, durfte ihnen die Mutter genommen werden, die einzige
Person, zu der sie noch Vertrauen hatten, nachdem der Vater sie verlassen
hatte.
Er würde alles tun, um das zu verhindern.
»Kennen Sie ihre ... Freundin schon lange? Können Sie ihr vertrauen?«
erkundigte er sich, in der festen Überzeugung, dass es Freundschaft zwischen erwachsenen
Menschen nicht gab. Kinder hatten Freunde. Jugendliche glaubten, Freunde zu
haben. Erwachsene hatten bestenfalls mehr oder weniger stabile Beziehungen, zusammengehalten
von mehr oder weniger identischen Interessen und Bedürfnissen. Er warf einen
Blick zu Lisa, die melancholisch aus dem Fenster schaute.
»Gerda? Ich habe sie kennengelernt, als ich Julia eingeschult
habe. Ihr Mann war ein hohes Tier bei der Kripo.«
»War?« setzte Gromek nach.
»Ja, Rauschgiftfahndung. Er kam bei einem verdeckten Einsatz ums
Leben. Das ist jetzt etwas über ein Jahr her. Seine Leiche war bis zur
Unkenntlichkeit verbrannt. Gerda hat furchtbar gelitten. Ich hatte sie und
ihren Mann überprüft, und als unbedenklich eingestuft. Im Übrigen kann die Sektion-4 Gerda unmöglich mit mir in Verbindung bringen. Als ich das letzte Mal überprüft
worden bin, kannte ich sie noch nicht.«
»Klingt gut. Ihre nächste Sicherheitsüberprüfung steht also bald
wieder an, hm?«
»In etwa sechs bis acht Wochen, richtig.«
»Und, haben Sie Angst? Vor dem Lügendetektor, meine ich?«
»Naja ... Nein, eigentlich nicht.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, durchquerten sie den
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