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Gromek - Die Moral des Toetens

Gromek - Die Moral des Toetens

Titel: Gromek - Die Moral des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lutz
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behelligen. Sie hätte ihm ohnehin nicht helfen
können. Wenn ihn die rund 20 Fachärzte und Psychologen, die er im Laufe der
letzten Jahre wegen seiner regelmäßigen Alpträume aufgesucht hatte, nicht
hatten therapieren können, dann konnte es niemand.
    Als Lisa nun mit Schwung die Vorhänge zurückzog, flutete urplötzlich
das Licht der Morgensonne in den großen Raum und bahnte sich rücksichtslos
seinen Weg bis in die letzten Winkel des Zimmers. Geblendet von der
unerwarteten Helligkeit, kniff Gromek die Augenlider zusammen.
    Als er sie wenige Sekunden später blinzelnd wieder öffnete, kam
Julia herein gehüpft. Sie trug ein rotes Kleid mit einem Muster aus kleinen
grünen Punkten, die sich bei genauerem Hinsehen als brüllende Dinosaurier mit
weit aufgerissenen Mäulern entpuppten.
    »Tee oder Kaffee?« fragte sie hell, als wäre sie eine Aushilfsbedienung
in einem Straßencafé.
    »Zuallererst, mein Schatz, sagt man was?« fragte Lisa.
    Julia überlegte, wobei sie den Nagel ihres rechten Zeigefingers
zwischen ihre makellos weißen Vorderzähne steckte: »Guten Morgen, Herr Gromek.
Tee oder Kaffee?«
    Ohne jedoch auf eine Antwort von Gromek zu warten, der schon den
Mund geöffnet hatte und gerade etwas erwidern wollte, setzte sich die Kleine zu
ihm auf die Couch, um fernzusehen, geradewegs vor seinen Bauch. Selbstvergessen
legte Julia ihren rechten Arm auf Gromeks Brust und fing schon nach wenigen
Augenblicken an, über die herumalbernden Zeichentrickfiguren zu lachen.
    Lisa betrachtete die Szene mit gemischten Gefühlen. Doch anstatt
ihre Tochter zurechtzuweisen, dass sie sich ordentlich hinsetzen und ihren Gast
nicht so bedrängen sollte, ließ sie sie gewähren und warf Gromek einen
entschuldigenden Blick zu. Den schien Julias Vertraulichkeit nicht zu stören.
Er sah zu Lisa auf und zog dabei die dichten, dunklen Augenbrauen in einer Weise
nach oben, die Lisa unwillkürlich als ungemein anziehend empfand.
    »Kaffee klingt gut. Das wäre jetzt genau das Richtige«, erklärte
er gelassen und ließ den hochgezogenen Augenbrauen ein nicht minder anziehendes
Lächeln folgen.
    »Bevor ich es vergesse«, erwiderte Lisa im Hinausgehen, »Sie haben
dieselbe Konfektionsgröße wie mein Mann. Wenn Sie wollen, können Sie sich aus
seinem Kleiderschrank bedienen. Sie finden ihn oben im Schlafzimmer; gleich
rechts neben der Treppe.«
    »Soll ich Dir Vatis Kleiderschrank zeigen?« erkundigte sich Julia
bei dem überraschten Gromek, der davon ausgegangen war, dass das Kind sich ganz
und gar auf die Fernsehsendung konzentrierte.
    »Ja, warum nicht. Wer so ein schönes rotes Kleid trägt wie Du, der
weiß auch bestimmt, was ich heute anziehen soll.«
    Julia strahlte. Stolz stand sie auf und lief zur Tür wo sie
wartete, bis sich Gromek aus dem Bett erhoben und zu ihr gesellt hatte. Das
Fernsehprogramm, das sie eben noch begeistert angeschaut hatte, war plötzlich
nicht mehr interessant.
    ..Gromek hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie sein Leben
ausgesehen hätte, wenn er selbst Vater geworden wäre. Diese Frage hatte sich
für ihn nie ergeben, und auch sonst hatte er eigentlich keine Erfahrung mit
Kindern. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass ihm der Umgang mit Lisas
Tochter großen Spaß machte.
    Der geräumige begehbare Kleiderschrank in Lisas Schlafzimmer war
gut sortiert. Acht Sommeranzüge, vorwiegend in dunklen Farben, hingen
ordentlich in ihren Kleidersäcken auf der einen Seite, während auf der anderen
Seite Dutzende von Oberhemden, Krawatten und Schuhen lagerten.
    »Was ist deine Lieblingsfarbe?« erkundigte sich Julia bei Gromek,
der mit verschränkten Armen neben ihr stand und die Fülle der möglichen
Kleiderkombinationen musterte.
    »Anthrazit.«
    »Anthra ... was?« Julia hatte von dieser Farbe noch nie gehört.
    »Anthrazit liegt irgendwo zwischen schwarz und grau«, erklärte
Gromek, während er den Schrank betrat und sich nach kurzer Wahl für einen der
Anzüge entschied. Er legte ihn auf Lisas Bett und entfernte die
Kunststoffhülle. »Siehst Du, das ist Anthrazit.«
    »Das ist ja dieselbe Farbe wie von meinem Bleistift«, wunderte
sich Julia.
    »Ja, genau. Jetzt fehlen nur noch ein passendes Hemd und eine
Krawatte. Eventuell noch eine Weste.«
    »Eine Weste wäre toll«, meinte Julia. »Aber unser Vati hat nur
zwei, und die trägt er nie.«
    Gromek griff in eines der Regale und förderte mehrere Oberhemden
zutage. Er zeigte Julia ein Hemd nach dem anderen - doch jedes Mal schüttelte
das

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