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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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Hause kam, was die Mutter nicht merkte oder lediglich überging, mitunter zum Anlass für großes Gekeife nahm. Spätestens gegen sechs saß sie in einer geknöpften Bluse, mit onduliertem Haar und nachgezogenen Lippen auf dem Wohnzimmersofa, roch nach Pfefferminz und blätterte in einer Zeitschrift, einem Katalog. An jenem Tag wie an allen anderen saß sie so und blätterte, indem sie den Zeigefinger anfeuchtete, das Blatt antippte und ruckweise aufflattern ließ, in einem Tempo, in dem sie unmöglich lesen konnte, schon im Betrachten der Bilder erfassen musste, ob das Geschriebene für sie von Interesse war.
    Nicht der Vater, der andere Fahrer sei schuld gewesen, so sollte die Mutter später die Geschichte erzählen: in hohem Tempo von der Gegenfahrbahn auf die Spur gewechselt, die der Vater eben heranfuhr, ein Unglück, nicht abwendbar, der andere wahrscheinlich betrunken oder um den Verstand gebracht.
    Wie sie auf ihn gewartet hatten, dachte Schramm, um diesen Glastisch gesessen hatten, in hochgespannter Achtsamkeit, wie die Sinne sie entwickeln, wenn Reize ausbleiben. Zerdehnte Dämmerung, während der der Bruder einmal aufgestanden, ins andere Zimmer mit dem gedeckten Tisch gegangen war, zurückkam mit einem Stück Brot, einer eingelegten Gurke, von der er mit Genuss aß, bei jedem Bissen das Kinn etwas nach vorn schob.
    Sehr wohl, dachte Schramm, gab es ein Davor, ein Danach. Und er erinnerte sich, wie sie gewartet hatten, wie die Mutter, blätternd, unverändert über ihrer Zeitschrift gesessen hatte. Wie still es gewesen war und immer stiller wurde, als man endlich nichts mehr in die Siedlung hineinfahren hörte, nur noch das Rascheln vernahm, wenn die Mutter in ihrer Zeitschrift blätterte, sie schloss, um eine weitere vom Stapel zu nehmen, indes der Bruder ihm gegenübersaß, in Gedanken auf den leeren Ohrensessel blickte, herzhaft in die tropfende Essiggurke biss. Nicht unzufrieden, dachte Schramm, so viel war sicher, unzufrieden hatte der Bruder im Grunde genommen nicht ausgesehen, nichts in seinem Ausdruck darauf hingedeutet, dass er auf eine schlechte Nachricht hin bleich werden, die Hände vor das Gesicht schlagen und für Tage an niemanden das Wort richten würde.
     
    Wie sie einander angeschwiegen hatten, bei diesem letzten Besuch, dachte Schramm, wie unverhofft ermüdet, nachdem sie einander mehrmals ins Wort gefallen waren. Wie lange brauchte es, damit so ein Schweigen seltsam und schließlich unbehaglich wurde, das Unbehagen endlich so bestimmend, dass es sich nicht mit einer scherzhaften Bemerkung, nicht mit einem nachgeschenkten Wein vertreiben ließ und schon gar nicht, indem man den Vater zitierte, dessen in solchen Momenten bemühten Satz: Ein Engel geht durchs Zimmer. Anders als mit diesen Redensarten hatte der Vater sich nicht zu helfen gewusst, ein Grund mehr, dachte Schramm, ihn, von dem sie einander ohnehin nichts Neues berichteten, den Vater Vater sein zu lassen, wie Schramm es selbst oft genug gefordert hatte, um zu etwas anderem zu kommen, zu dem, worum es zwischen ihnen doch eigentlich ging.
     
    Noch nicht kalt, wie es heißt, war der Vater gewesen, als die Schallplatten kamen. Wochen vor seinem Tod musste er, während sie ihn im Geschäft geglaubt hatten, in die Stadt gefahren sein, um dort, in einem wahrscheinlich ganz zweitklassigen Studio, in Begleitung irgendeiner Pianistin, seinen Schwanengesang aufzunehmen, mit all diesen Ständchen von Frühling und Abschied, Schmerz und Stadt. Und man muss daran denken, dass der Vater nicht nur in seine Geschäfte, sondern vielmehr in seine ganze Art zu sein hineingezwungen worden war, nicht anders als die Mutter, die doch ebenfalls unter anderen Umständen ein ganz anderer Mensch geworden wäre. So wird man, hatte Schramm zum Bruder gesagt, bei allem Widerwillen gegen solche Beschwichtigungen hatte er es einmal sagen müssen, so werden Leute doch nicht von allein.
    Und, was folgt daraus, hatte Viktor gefragt, mit diesem gelangweilten und zugleich gewinnenden Gesicht, einem Ohrfeigengesicht, dachte Schramm und dass er an jenem Abend drauf und dran gewesen war, aufzustehen und zu ihm hinzugehen, ihn beim Arm zu packen mit beiden Händen, die dünne Unterarmhaut in zwei Richtungen gegeneinander zu drehen, wie er es in der Kindheit getan hatte, wenn es ihm zu bunt geworden war.
     
    In zwei Kisten waren die Schallplatten geschickt worden, zwei Wochen nach dem Unfall. Die Mutter hatte ihnen, kaum dass sie aus der Schule heimgekommen waren,

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