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Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hardebusch
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griff sie danach, aber er glitt ihr aus den Fingern und verschwand in den Schatten. Die Dunkelheit vor ihr jedoch blieb, ob sie ihr einen Namen geben konnte oder nicht, und als die Furcht ihre Klauen in Rimas Nacken grub, wusste sie, dass sie noch nie zuvor so große Angst gehabt hatte wie in diesem Moment. Sie fasste sich an die Kehle, da sie glaubte, angesichts dieser Finsternis ersticken zu müssen, doch der Schrei ihrer Furcht drang nicht über ihre Lippen. Er kam aus der Nacht, die vor ihr lag.
    Mit gewaltigem Donnern brach er über sie herein, zerfetzte die Luft und ließ die Bäume tosen, und als er ihr ins Mark fuhr, riss sie den Blick von den Schatten los und warf sich herum. Es schien ihr, als wäre eine eiserne Klaue von ihrem Körper genommen worden. Überdeutlich nahm sie den Geruch des Moores wahr, sie hörte das Grollen hinter sich, aber ehe die Dunkelheit sie packen konnte, sprang sie auf die Beine. Sie würde sich nicht umbringen lassen, nicht von einem Haufen Schatten! Wie besessen rannte sie los, schlug einen Haken und sprang ungeachtet des Schmerzes durch einen Dornenbusch. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, von Monstern verfolgt zu werden, als sie noch klein gewesen war – und war sie ihnen nicht immer entkommen? Vor ihrem geistigen Auge bäumte sich die Finsternis hinter ihr auf, doch je mächtiger die Kälte wurde, die ihr nachjagte, desto schneller wurde ihr Lauf. Sie eilte um die Bäume herum, duckte sich hinter Findlinge und sah endlich die Lichter des Dorfes durchs Unterholz schimmern. Schwer atmend sprang sie aus dem Dickicht des Waldes und fühlte gleich darauf den Schein der Fackeln auf ihrer Haut, die Schäfer Berrus am Rand seiner Weide zum Schutz seiner Tiere angebracht hatte. Erleichtert blinzelte sie gegen das Licht an und hob geblendet die Hand. Sie hörte Stimmen auf der anderen Seite der Koppel, erkannte Berrus unter ihnen und ihren Onkel und setzte sich in Bewegung. Es waren nicht die Kinder gewesen, die geschrien hatten, das wusste sie plötzlich, und sie beschleunigte die Schritte. Die anderen würden wissen, was geschehen war, sie hatten die Schreie sicher auch gehört, und vielleicht hatten sie sogar die Dunkelheit gesehen, die Rima noch immer zwischen den Bäumen spürte. Die Schatten blieben im Wald zurück, doch etwas darin schaute ihr nach, als ob …
    Ein heftiger Widerstand riss ihr die Beine unter dem Körper weg. Sie stolperte über einen weichen, reglosen Gegenstand und landete mit erschrockenem Schrei im Gras. Sofort wurden die Stimmen der anderen lauter, sie riefen nach ihr. Rima richtete sich auf; benommen fuhr sie sich übers Gesicht und wollte gerade antworten, als sie den Geruch wahrnahm, der sie umgab. Bereits am Rand der Weide war er vorhanden gewesen, allerdings so flüchtig, dass sie ihn nicht weiter beachtet hatte. Jetzt aber roch sie den metallischen, süßlichen Duft mehr als deutlich. Sie fühlte verbrannte Erde und eine klebrige Flüssigkeit an ihren Fingern, und kaum hatte sie sich umgesehen und den Gegenstand betrachtet, über den sie gestürzt war, da stockte ihr der Atem.
    Es handelte sich um ein Schaf, tot und gehäutet wie Schlachtvieh. Die Augen lagen wie gesprungenes Eis in den Höhlen, die Glieder waren halb verbrannt, und das Maul des Tieres stand offen, als würde es noch immer schreien – rasend vor Angst im Angesicht des Todes. Rima kam auf die Beine. Sie taumelte, als die Fackeln der herbeilaufenden Dörfler die Weide zusätzlich erhellten, und bemerkte erst jetzt, wie unwirklich still es war. Wie im Traum wandte sie den Blick und spürte, wie ihr vor Entsetzen das Blut aus dem Kopf wich. Um sie herum lagen die Leiber der anderen Schafe, glänzend im Licht des Feuers. Die verkohlte Erde war rot von ihrem Blut. Rima hob die Hand vor den Mund. Sie sah noch das Blut an ihren Fingern und fühlte, wie ihr Onkel nach ihrem Arm griff. Dann wurde ihr schwarz vor Augen, und sie wusste nichts mehr.
    Die Ratslinde breitete ihre Äste als schützendes Dach über dem Marktplatz aus und warf ein Mosaik aus Licht und Schatten auf den steinernen Tisch des Ältestenrates. Abgesehen von Arok, dem Dorfvorsteher, hatten sich sämtliche Mitglieder bereits an seinem Rund versammelt. Rima saß dem Schäfer Berrus gegenüber, der sich leise mit einem der Ältesten unterhielt, und zeichnete mit dem Finger die Kerben nach, die vor langer Zeit in den Granit geschlagen worden waren. Das letzte Mal hatte sie vor diesem Tisch gestanden, als sie bei einem Ausflug

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