Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
Nun hatte er keine Angst mehr. Der Mond würde ihn leiten.
Zurück im Gasthaus, sah Kobbi sich sofort nach seinem Herrn um. In der Stube waren nur wenige Hartgesottene verblieben, die anderen lagen längst schnarchend daheim in ihren Betten. Kobbi schlich auf Zehenspitzen die Treppen hinauf in sein Zimmer. Dort versperrte er den Zugang mit dem Stuhl und öffnete anschließend vorsichtig die Verbindungstür.
Magister Brady lag ruhig atmend im Bett, nur gelegentlich drang ein leises Fiepen aus seiner Nase. Der Alkoholdunst im Raum warf den Bogin fast um, allein davon konnte man schon betrunken werden. Er öffnete das Fenster einen Spalt und musterte seinen Herrn genauer. Wie es aussah, würde den nicht einmal ein Erdbeben wecken können. Er musste seinen Rausch gründlich ausschlafen und würde wahrscheinlich mit einem gehörigen Kater erwachen.
Kobbi bewunderte seinen Meister, diese Herausforderung so tapfer bewältigt zu haben, und deckte ihn liebevoll zu. Dann ging er selbst schlafen.
Am nächsten Morgen wurde Kobbi früh geweckt. Das gesamte Dorf war auf den Beinen, und er hastete zum Fenster, das zur Hauptstraße ging. Dort unten strömten die jungen Männer von Beenstock zum Fluss, und drüben nahmen bereits die jungen Männer von Wesperton Aufstellung.
Als Kobbi Garth mit dem Dolch im Gürtel entdeckte, war er nicht mehr zu halten. In aller Eile spritzte er sich ein wenig Wasser ins Gesicht, zog sich an und sah kurz nach seinem Meister. Der schlief unverändert tief und fest und würde wahrscheinlich auch nicht so schnell aufwachen. Gut.
Kobbi hastete die Treppe hinunter und lief zum Fluss. Die jungen Männer standen wie an der Schnur aufgereiht am Ufer, hinter ihnen ihre Eltern, Geschwister, Anverwandte und Schaulustige.
»Was ist das für ein Kampf?«, fragte der Bogin eine Frau. »Und warum muss überhaupt gekämpft werden?«
»Na, weil es eben so ist«, antwortete die Dorfbewohnerin. »Jedes Jahr. So ist es Tradition.«
»Aber warum Kampf? «
Die Frau warf ihm einen verständnislosen Blick zu und richtete die Aufmerksamkeit dann wieder auf das Geschehen am Fluss.
Kobbi überlegte dazwischenzugehen und laut um Gehör zu bitten. Er musste doch etwas tun, um ein Unglück zu verhindern! Wie konnte man nur so besessen, so verbohrt sein, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen … Voller Schrecken sah er, dass Garth ganz vorn stand; er schien zu allem entschlossen zu sein. Keine Spur mehr von der Wankelmütigkeit und den unsteten Launen der letzten Nacht, seine Augen waren völlig klar und ernst.
Es war trotzdem der Wahnsinn, der ihn und alle anderen immer noch beherrschte! Und Kobbi hatte sich mitschuldig gemacht! Ausgerechnet ein Bogin! Sein Volk würde ihn dafür verachten und verstoßen.
Aber wie sollte er verhindern, was nun geschah? Wie sollte er die Schaulustigen aufrütteln, die schier nach Blut und Gemetzel lechzten? Sie wirkten alle so erwartungsvoll, viele feuerten ihre jugendlichen Kämpfer an. Wieso mussten alle jungen Männer ihr Leben riskieren? Was taten denn die Älteren?
Kobbi raufte sich das wollige Haar. Sie würden den Fluss mit ihrem Blut verschmutzen, und damit Hafren, die Herrin der Flüsse und Seen, die Schutzpatronin der Bogins, verhöhnen. Mit ihrer Hilfe wuchs und gedieh alles und vermehrte sich; sie brachte Leben, nicht den Tod, und nun würde ihr Element besudelt werden.
Verzweifelt rannte er nach vorn, um Garth aufzurütteln. Wenn ihm überhaupt jemand zuhören würde, dann nur er.
Doch bevor er ihn erreichte, begann es.
Die Kämpfer hatten einander gegenüber Aufstellung bezogen, nur der Fluss trennte sie. Alle hatten sich ganz besonders herausgeputzt, und nun stampften sie mit den Stiefeln auf und schmetterten einander Kriegslieder entgegen. Es waren Gesänge voller Schmähungen, Drohungen, Beschimpfungen und Lästereien.
Kobbi blieb stehen und hörte staunend zu. Wenn Menschen in allen Dingen so erfindungsreich wären wie in wortreichen Flüchen, könnten sie die Welt beherrschen und Dinge bauen, die … ja, bis in den Himmel reichten.
Nach und nach lösten sich einzelne Stimmen aus dem Chor. Jeder sollte anscheinend einmal zu Wort kommen, um eine ganz besonders sorgfältig formulierte Beleidigung auszustoßen.
Die jungen Männer reckten dabei die Arme, unterstrichen ihre Worte mit Gesten, bewegten sich dabei wie im Tanz und steigerten sich immer noch mehr hinein. Sie schrien und brüllten, unterbrachen sich, schleuderten kühne Versprechungen über den
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