Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
den Zweck hatte, zwei schwer vermittelbare Boggars zueinanderfinden zu lassen, Kuppeln.
Milo war mit achtundzwanzig der älteste Blaubeersspross. Sein Bruder Bonne war drei Jahre jünger, und danach folgten neun weitere Geschwister im Abstand von ein bis zwei Jahren, fünf Jungs und vier Mädchen. Daran war nichts Ungewöhnliches. Halblinge liebten große Familien und große Familienfeiern. Was aber Bonne und Milo zu zweifelhaften Berühmtheiten innerhalb Eichenblattstadts gemacht hatte, war ihr ewig währender Wettstreit miteinander. Ständig versuchten sie sich mit den waghalsigsten Mutproben zu übertrumpfen, und nicht selten brachten sie sich und andere dabei in Gefahr. Bonne und Milo hatten ihrem Vater versprechen müssen, sich etwas zurückzunehmen, als sie vor gut einem Jahr den Hühnerstall von Bürgermeister Bons Butterblums niedergebrannt hatten, weil sie vom Dach des Nachbarhauses durch einen brennenden Reifen springen wollten. An diesem Tag schworen die beiden, im Beisein ihres Vaters und Bürgermeister Butterblums, keine waghalsigen Experimente mit Feuer mehr zu machen – in denen es um Sprünge vom Dach ging, bei dem sich schnell entflammbares Federvieh in der Nähe aufhielt. Ob die Einschränkungen des Versprechens so oder doch vielleicht etwas allgemeiner gehalten waren, konnte wenig später keiner der beiden genau sagen. Sie wussten nur eins, dass der Wettstreit mit dem brennenden Reifen unentschieden ausgegangen war. Ein Zustand, den man nicht hinnehmen konnte. Dem hätte auch ihr Vater wahrscheinlich zugestimmt oder zumindest vielleicht, und selbst wenn nicht, unentschieden gab es nicht. Drei Wochen später konnte Bonne die Mutprobe für sich entscheiden, jedoch nur, weil Milo nicht wie sein Bruder auf die linke Hälfte seines Haupthaares verzichten wollte. Immerhin wetteiferten sie auch darum, wer zuerst eine Braut fand. Da war eine ordentliche Frisur ein respektabler Vorteil.
Bonnes Haare waren mittlerweile nachgewachsen, die Karten neu gemischt und der Hühnerstall lange vergessen. Nicht in Vergessenheit geraten war jedoch das ewige Wetteifern der beiden Brüder. Alles in allem hatte sich kaum etwas verändert. Bonne und Milo heckten weiterhin ihre Streiche aus, erboste Nachbarn gaben sich bei den Blaubeers die Klinke in die Hand, und ihr Vater schien nicht müde zu werden, stundenlange Vorträge über das Leben in der Gemeinschaft von sich zu geben. Manchmal jedoch gerieten die Dinge außer Kontrolle.
Milo Blaubeers stemmte die Fersen mit aller Kraft gegen die Wurzeln der alten Trauerlinde. Er lag rücklings auf dem harten Waldboden und umklammerte das letzte Ende eines Seils, das sich vor ihm am Rand der Seufzerschlucht verlor. Seine Hände schmerzten, die Fingerknöchel färbten sich weiß, und die Kraft wich langsam aus seinem Körper.
»Bonne, du musst versuchen, irgendwo Halt zu finden«, keuchte er. »Ich kann dich bald nicht mehr halten.«
Bonne antwortete nicht, aber das Seil schabte ein Stück über den Rand des Abgrunds und verklemmte sich mit einem Ruck in einer scharfkantigen Spalte.
»Bonne, hörst du?«, flehte Milo.
»Ich komme nicht an ihn heran«, hallte es aus der Schlucht. »Kannst du mich noch ein bisschen weiter hinunterlassen?«
Milo starrte verzweifelt auf das letzte Ende Seil, das er umklammerte.
»Hast du mich nicht verstanden?«, zischte er, in der Hoffnung, von seinem Bruder gehört zu werden. »Halt dich irgendwo fest, oder du kommst weiter nach unten, als dir lieb sein wird.«
Das Seil begann verächtlich zu knarren, und Milo spürte, wie das Gewicht am unteren Ende hin- und herschwang.
»Was tust du da, du Schwachkopf!«, keuchte er.
»Halt durch! Ich habe ihn gleich«, krächzte Bonne mit einer Stimme, als wenn es ihm die Luft abschnürte. Dann schien er plötzlich mit jemand anderem zu sprechen. »Ich will dir doch nur helfen. Nun mach es mir doch nicht so schwer. Komm … jetzt … endlich … her!«
Plötzlich gab das Seil nach, und Milo schlug mit dem Kopf hart gegen den Stamm der Trauerlinde. Halb benommen, aber immer noch das Seil umklammernd zog er das Ende weiter zu sich heran. Er hörte seinen Bruder stöhnen und etwas Unverständliches krächzen.
»Ist alles in Ordnung?«, rief Milo ihm zu.
»Hohent och«, drang es aus der Schlucht hinauf.
Milo zog weiter an. Eine Handbreit nach der anderen holte er das Seil ein, doch dann stockte es unvermittelt. Sein Bruder musste irgendwo festsitzen. Zwei Mal riss Milo mit aller Kraft, doch das
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