Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
an seinen Gürtel und zog den Dolch. Er hielt ihn Kobbi hin. »Der gehört wohl dir. Danke.«
Kobbi nickte. Wortlos steckte er den Dolch in die abgewetzte leere Schlaufe an seinem Gürtel.
»Ihr nennt ihn Urram, nicht wahr?«
»Ja. Wir erhalten ihn zur Geburt und trennen uns unser ganzes Leben lang nicht von ihm.«
»Und dennoch … hast du ihn mir gegeben.«
»Du hast ihn gebraucht.«
Garths Lächeln vertiefte sich. »Es stimmt, was man über euch Bogins sagt. Ihr seid da, wenn man Hilfe braucht.«
Kobbi wunderte sich schon lange nicht mehr über Garths Kenntnisse, er hatte in den vergangenen Momenten genug von ihm und über ihn gehört. »Du hattest keine Hilfe nötig, Garth, das hast du nur nicht begriffen. Mein Dolch war nichts als ein Schwindel, denn das Grab war leer.«
»Kobbi … so ist das nicht. Du hast mir gezeigt, dass es nicht so schwer ist, seinen Mut zu finden. Und du hast eine Lösung gefunden, wo es augenscheinlich keine gab. Ich habe … diesen Schubs zum Selbstvertrauen gebraucht. Wenn ich gestern nicht so betrunken gewesen wäre, wäre all das nicht geschehen, und ich wäre heute wie jedes Jahr abgehauen und hätte mich ganz weit hinten versteckt. Und hätte Malin ein weiteres Mal enttäuscht. Dein Dolch war das Symbol, an dem ich mich festhalten konnte. Ich habe dich benutzt, und du hast ein großes Opfer gebracht. Das werde ich nie vergessen. Jetzt … kann ich auf eigenen Füßen stehen. Und meine Träume wahr werden lassen. Ich habe so viel vor!«
Kobbi grinste. »Ihr Menschen seid Spinner«, stellte er sachlich fest.
»Und ihr Bogins seid mehr, als ihr ahnt. Viel mehr«, erwiderte Garth, und dann entschuldigte er sich hastig, denn soeben erreichte die Fähre mit Malin den Pier. »Besuch mich mal wieder!«, rief er noch über die Schulter, während er losrannte. »Du wirst staunen, was sich alles verändern wird!«
Während das Dorf fröhlich feierte und viele junge Menschen zueinander fanden, kehrte Kobbi ins Gasthaus zurück. Er entdeckte seinen Meister hellwach und munter beim Frühstück. Keine Spur vom nächtlichen Saufgelage.
»Menschen haben merkwürdige Rituale«, stellte er fest, während er sich an den Tisch setzte und seinen Teller belud. Eine ordentliche Mahlzeit hatte er sich jetzt verdient. Immer wieder tastete er über den Urram an seinem Gürtel; dass er es über sich gebracht hatte, ihn herzugeben, erschien ihm jetzt noch abwegig. Und dennoch hatte er es getan.
»Ach, diese Dörfler sind alle ein wenig verschroben, dabei musst du dir nichts denken«, erwiderte der Gelehrte und wedelte mit der Hand den Dampf beiseite, der aus seinem Teebecher aufstieg. »Wir Städter sind da ganz anders. Und wenn man’s genau nimmt, hat jedes Dorf, hat jede Stadt eigene Sitten. Das ergibt sich zwangsläufig so, wenn man auf engem Raum lebt.«
»Dann bin ich jetzt wirklich gespannt auf Mathlatha«, bemerkte Kobbi. »Und … auf Tiw.« Garth’ Bemerkung über die Bogins hallte noch in ihm nach.
Magister Brady musterte ihn von der Seite. »War eigentlich etwas Besonderes los, während ich … äh … beschäftigt gewesen war?«.
»Ganz und gar nicht, Meister«, antwortete Kobbi vergnügt. »Ich bin früh schlafen gegangen.«
ZUR TOTEN KRÄHE
von Stephan Russbült
Milo und Bonne Blaubeers waren Halblinge und keine Unbekannten in ihrem Heimatdorf. In Eichenblattstadt, einer Fünfhundert-Seelen-Gemeinde inmitten des Düsterkrallenwaldes, lebten die Halblinge ausschließlich unter ihresgleichen. Genauer gesagt waren es sechs Familien, die sich hier niedergelassen hatten: Die Blaubeers, die Bollwerks, die Grünblatts, die Findlings, die Butterblums und die Fuhrtfuß.
Milo und Bonne waren Brüder, Boggars, wie man die nicht mehr jugendlichen, aber noch unverheirateten Halblinge nannte. Dieser Zustand (und nichts anderes war es) konnte vom zwanzigsten bis zum dreißigsten Lebensjahr reichen, ohne in irgendeiner Form peinlich zu wirken. Danach musste man damit rechnen, dass andere einen belächelten, hinter vorgehaltener Hand miteinander flüsterten und zu kichern begannen, wenn man ihnen den Rücken zuwandte. Nicht selten kam es in solchen Fällen vor, dass Familien, die ansonsten miteinander zerstritten waren, sich abends gegenseitig besuchten und rein zufällig eine Nichte, einen Großneffen oder sonst einen entfernten Verwandten des anderen Geschlechts im leicht überschrittenen heiratsfähigen Alter mitbrachten. Im Volksmund hieß dieses gegenseitige Besuchsritual, das allein
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