Große Kinder
alle anderen Elemente der Welt, entdeckt, ausgelotet und auf die Probe gestellt werden (dazu mehr in den Kapiteln »Wo geht’s lang?« und »Und wie seid ihr?«).
Selbständige Streifzüge aber fördern die Entwicklung der Kinder auf der ganzen Bandbreite. So bauen die Kinder zu dem Landschaftsraum oder dem Stadtteil, in dem sie aufwachsen, eine konkrete emotionale Beziehung auf: Jeder Baum, jedes Haus, jeder Abhang, jede Bachbiegung, jede erklommene Mauer, jeder durchdrungene Zaun, die halsbrecherisch genommene Treppe, eine bestimmte Bordsteinkante – all das bekommt im Lauf der Zeit eine besondere gefühlsmäßige Bedeutung. Daraus entwickelt sich Bodenständigkeit, und späterverklären sich die gesammelten Eindrücke zum »Heimatgefühl«. Mit jedem Schritt in dieser Welt werden Körperkraft und Geschicklichkeit immer wieder anders auf die Probe gestellt und geübt. Jedes Erlebnis spricht meistens neue und unerwartete Gefühle an, die dann immer wieder gesucht oder in Zukunft lieber gemieden werden. So entwickelt sich emotionale Lebendigkeit und Widerstandskraft. Jede Erfahrung gemeinsam mit den Kameraden bringt die soziale Entwicklung voran. Und nicht zuletzt sind die Entdeckungen und Eroberungen auch für die geistige Entwicklung der Kinder fruchtbarer als so manche Schulstunde: Wissbegierde, Eigeninitiative, Improvisationsgabe, Phantasie und Kreativität sind die Grundvoraussetzungen für das Leben in dieser ursprünglichen, natürlichen Kinderwelt. In den Lebenserinnerungen von erfolgreichen, innovativen Erwachsenen wird immer wieder sichtbar, dass ein guter Teil ihrer beruflichen Kompetenz letztlich auf das Wissen und die Erfahrungen und Fähigkeiten zurückgeht, die sie sich selbständig im Umgang mit der Welt in diesen Kindertagen angeeignet haben.
Wo aber können Kinder ihre – unsere – Welt heute noch in ihren Grundelementen kennen lernen, auf eigene Faust entdecken, erobern, ausloten, Grenzen finden und damit eine tragfähige Sicherheit im Umgang mit der Welt bekommen?
In unserer Gesellschaft werden Kinder fern gehalten von der Welt, in der sie aufwachsen, und dafür jedes Jahr in den Ferien an einen anderen Ort verpflanzt, an dem sie keine Wurzeln schlagen können. Es ist für Kinder auch schwer, Zugang zu der Welt zu finden, in der sie leben: Im 20. Jahrhundert haben die Erwachsenen zumindest in den Industrienationen den Kampf um die öffentlichen Räume vollends für sich entschieden und die Kinder erfolgreich verdrängt: Alle verlockenden Plätze sind »besetzt«, abgeriegelt, eingezäunt oder bewacht. Straßen undGehwege sind asphaltiert, also sind die Erwachsenen nicht nur den Dreck, sondern auch die lästigen »Marmellöcher« und die ewig im Weg stehenden Kinder los. Außerdem sind die Gehwege so schmal, dass selbst ein »Himmel-und-Hölle-Spiel« unmöglich wird: Erwachsene und Spiel passen nicht gemeinsam auf einen Gehweg, also müssen die Kinder weichen.
Die »Lebens«räume, in denen sich behütete Kinder von heute aufzuhalten haben, stehen unter der strengen Kontrolle von Erwachsenen und sind so eng wie möglich umgrenzt: Schulklasse, Schulhof, Sportverein (da ist, unter Aufsicht des Trainers, das Betreten eines garantiert ebenen, penibel gemähten Rasens ausnahmsweise erlaubt, wenn nicht ohnehin auf Kunstrasen trainiert wird), Musikunterricht, Nachhilfestunde, Jugendclub mit vorgegebenen Aktivitäten, Kinderdisko, Krankengymnastik, Spieltherapie.
Die Findigsten unter den Kids aber lassen sich auch dadurch nicht unterkriegen. Es gibt eine neue Version von »Eisschollenspringen«, die etwas ungefährlicher, auf jeden Fall trockener ist und ganzjährig ausgeführt werden kann. Die Erwachsenen allerdings trifft diese neue Geschicklichkeitsübung empfindlich. Völlig klar, dass sie darin eine neuartige Form von Kinderkriminalität sehen, die konsequent geahndet und bestraft werden muss – wodurch es für die Kinder erst richtig spannend wird: Der Spaß ist, auf Parkplätzen von Autokühler zu Autokühler zu springen, auch oder gerade wenn es manchmal ganz schön weit ist!
Spaß am Feuerwerk ist auf eine einzige Nacht des Jahres reduziert. In der Silvesternacht allerdings sind die Jungenmeuten auch heute noch los! (Und weil die Jungen zu wenig Gelegenheit haben, beizeiten den richtigen Umgang mit Feuerwerk zu lernen, werden in dieser einen Nacht leider viele Kinder verletzt.)
Für die braven oder weniger risikofreudigen Kinder ist in unseren Breiten nicht mehr viel
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