Große Kinder
von neuem fest, wieder preßten die Knie sich zusammen, und
binnen fünfzehn oder zwanzig Sekunden bekam Camus bereits den ersten Ast zu fassen.
(Pergaud, S. 71)
Ein Kind, das so viel Willenskraft und Selbstbeherrschung aufbringt (sich mit den Knien an einem Baumstamm abzustoßen, muss ganz schön wehtun!), hat vermutlich bessere Grundlagen für eine gefestigte Persönlichkeit, als ein Kind, das stundenlang durch Computerlabyrinthe irrt. Umgekehrt würden so einem Camus ein paar Computerspiele bestimmt nicht schaden.
Ausdauer und Motivation lassen sich weder befehlen noch einstudieren. Diese Eigenschaften entwickeln sich ganz automatisch, wenn man etwas tut, das man aus eigenem Wunsch machen
möchte
. Die Erfahrung, dass es möglich ist, etwas zu erreichen, wenn man nur ausdauernd und hartnäckig genug dranbleibt, diese Erfahrung muss man wohl im Alter zwischen 7 und 13 und dort vor allem bei körperlichen Aktivitäten aus eigenem Antrieb gesammelt haben.
Im Sportunterricht und in den freiwilligen Trainingsstunden am Nachmittag sollen neben Ausdauer vor allem Muskelkraft, Geschicklichkeit, Wendigkeit, Geschwindigkeit und Reaktionsvermögen mit ausgeklügelten und wissenschaftlich erprobten Spezialübungen trainiert werden. Aber um diese sportlichen Fähigkeiten geht es Kindern gar nicht, wenn sie selbst spielen und selbst wenn sie so tun, als würden sie »trainieren«. Diese aus Erwachsenensicht so entscheidenden Lernziele des Sportunterrichts sind beim natürlichen kindlichen Spiel Nebenprodukte, die sich »einfach so« ergeben.
Rene Higuita, einer der bewunderten Torhüter der Fußballweltmeisterschaft 1990, führt seine Torwart-Qualitäten zum Beispiel darauf zurück, dass er als Junge in einem Stadtteil an einem relativ steilen Hang gelebt hat und Fußballspielen nurauf einer der abschüssigen Straßen möglich war. Wenn er, der Torwart, den Ball durchließ, musste er immer endlos den Berg hinunterrennen, um den Ball wieder zu holen.
Wichtig im selbst bestimmten Spiel der Kinder sind ganz andere Dinge, als Erwachsene glauben. Wichtig sind Phantasie, Gefühle, Eigeninitiative und Grenzerfahrungen: Kein Kind würde von sich aus Spaß daran haben, nur einfach schneller und schneller oder länger und länger zu laufen (das kommt im Jugendalter). Wenn Kinder tatsächlich versuchen, beispielsweise schneller und schneller zu laufen, dann stecken immer Spielphantasien dahinter, sei es zum Beispiel, dass sie »Olympiade« spielen und dabei versuchen, so schnell zu sein wie der Olympiasieger im 10 0-Meter -Lauf. Oder sie stellen sich vor, sie würden an einer »Polizisten-Ausbildung« teilnehmen, mit dem Ziel, schneller zu werden als der schnellste Verbrecher. Oder sie haben die Phantasie, dass sie vor einer Herde Büffeln weglaufen müssen. Oder sie spielen einfach »Training«, Fußball-Nationalmannschaftstraining zum Beispiel, wo es darum geht, wer den schnellsten Antritt und Spurt hat.
Die Erwachsenen verstehen diese Spiele meistens völlig falsch. Sie schließen daraus, dass die Kinder trainieren
wollen
und nehmen sie dann unter ihre Fittiche. Wenn aber die »Großen« dabei sind, die sowieso alles schon können und wissen, wird das Spiel auf einmal ernst und hat nichts mehr mit den ursprünglichen kindlichen Phantasien und Bedürfnissen zu tun. Dann ist Bewegung plötzlich etwas Fremdes, das nicht zu der Welt passt, in der man eigentlich lebt und mit der man sich, auch in den Körperspielen, auseinander setzt.
Schwer vorstellbar, dass Kinder in einem Ballettunterricht, einem Fußballtraining oder einer Tennisstunde auch nur annähernd das empfinden können, was zum Beispiel Albert Camus mit dem Palmwedel-Wind-Spiel verbindet:
Wenn Jacques dort hochaufgerichtet über diesem Park und diesem von Bäumen brausenden Plateau stand, unter dem Himmel, an dem riesige Wolken dahinrasten, fühlte er den vom äußersten Ende des Landes gekommenen Wind an dem Palmenzweig und an seinen Armen herabgleiten, was ihn mit einer Kraft und einem Jubel erfüllte, die ihn unablässig lange Schreie ausstoßen ließ, bis seine Arme und Schultern von der Anstrengung zermürbt waren und er am Ende den Palmwedel losließ, den der Sturm zusammen mit seinen Schreien mit einem Stoß davontrug. Und nachts, wenn er todmüde ... im Bett lag, lauschte er noch dem in seinem Innern heulenden und tobenden Wind, den er sein Leben lang lieben sollte.
(Camus, S. 273 f.)
Schreien, Brüllen, Luftanhalten (beim Tauchen zum
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