Große Kinder
»Welt« übrig, die sie mit ihren Freunden gemeinsam entdecken und mit allem, was dazugehört, ausprobieren können. Selbst die staubig-dämmrigen Dachböden, einst die geheimnisumwobenen Schlechtwetternischen der Kinderwelt, sind Dachausbauprogrammen zum Opfer gefallen. Auch Baumhäuser, die in der Erinnerung vieler Erwachsener, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgewachsen sind, zu Schlüsselerlebnissen gehören, sind verschwunden: In Deutschland werden zumindest innerhalb der bewohnten Gebiete den Bäumen die unteren Äste abgeschnitten: Sie könnten im Weg sein!
Wenigstens Schlittschuhlaufen und Baden ist den Kids als Gruppenspaß geblieben. Tatsächlich sind neben den wenigen und meistens asphaltierten Bolzplätzen für die Jungen Schwimmbäder und Eislaufbahnen heute die Treffpunkte, wo sich Kinder, Jungen und Mädchen gleichermaßen, am ehesten verabreden. Aber welcher Vergleich zu früher! In den Schwimmbädern – mit garantiert hygienisch einwandfreier Wasserqualität – gibt es strenge Regeln, die das Aufleben einer munteren Kinderhorde im Keim ersticken. Und auf Eisbahnen, die natürlich Eintritt kosten, dafür unter Aufsicht stehen, geht es immer in einer Richtung im Kreis herum – wehe, ausgelassene Bengel wagen es, die Kreise der anderen Läufer zu stören!
Als in den vergangenen Wintern die Seen in Berlin zugefroren waren, konnte man erleben, dass sich Kinder unter etwa 12 Jahren kaum zu spontanen Hockeyspielen zusammengefunden oder sich gegenseitig übers Eis gejagt haben. Die meisten hielten sich relativ brav an erwachsene Begleitpersonen, unter deren Anleitung sie das Rückwärtsfahren oder Pirouettendrehen übten. Von Kindern droht Erwachsenen also so gut wie keine »Gefahr« mehr!
Dann dürfen wir uns aber auch nicht darüber beklagen, wenn junge Leute heute zu wenig Pioniergeist, Initiative und Risikobereitschaft zeigen. Und auch nicht darüber, wenn Jugendliche in gebündelter Formation auftauchen, um mit unkontrollierten Kräften gezielt gegen die Erwachsenen »die Welt erobern«. Denn die Jugendlichen versuchen damit wenigstens teilweise nur das nachzuholen, was sie im richtigen Alter versäumt haben. Im Grunde fühlen sie sich oft nur hilflos und fehl am Platze in einer Welt, die ihnen fremd ist und in der so vieles nicht zu dem passt, was sie von ihren Spielwelten, aus ihren Zeitschriften und von ihren Bildschirmen her kennen.
Wetten, ich schaff’s?
Die Entwicklung von Energie, Wille und Beweglichkeit
E rich hatte es geschafft: Gerade 12 Jahre alt geworden, war es ihm nach monate- und nachmittagelangem Üben wirklich gelungen, auf einer zwei Meter langen, nicht angelehnten Leiter auf der einen Seite rauf- und auf der anderen wieder runterzusteigen!
Als er diese Geschichte siebzigjährig seinen Enkeln erzählte, strahlte er immer noch triumphierend, aber auch seine Verwunderung, dass dieses Kunststück überhaupt gelingen konnte, war nicht zu überhören.
Gerd und Kalle, Brüder von etwa 12 und 11 Jahren, verbrachten in ihrer zugepflasterten Wohnsiedlung Nachmittage damit, sich mit dem Fahrrad gegenseitig in die Enge zu treiben. Wer zuerst absteigen musste, hatte verloren. Mit verblüffender Wendigkeit tricksten sie sich in fast aussichtslosen Situationen gegenseitig aus. Nach ein paar Monaten machte das Spiel aber keinen Spaß mehr: Beide konnten so lang auf dem stehenden Fahrrad balancieren, dass schließlich nicht mehr geklärt werden konnte, ob das Absteigen freiwillig oder erzwungen war.
Im wüstennahen Algier haben Albert Camus und sein Freund ein anderes Spiel erfunden, um ihre Kraft und Geschicklichkeit zu messen:
Am großartigsten aber waren die windigen Tage ... Die Terrasse war so gelegen, daß sie an den Tagen, an denen der in Algier immer starke Ostwind sich erhob, mit voller Wucht von der Seite gepeitscht wurde ... Die Palmwedel hinter sich herziehend, liefen sie dann zur Terrasse; der tobende Wind pfiff ... Es ging darum, auf die Terrasse zu steigen, die Palmenzweige hinaufzuziehen und sich mit dem Rücken zum Wind aufzustellen. Dann nahmen die Kinder den knisternden, trockenen Palmwedel fest in beide Hände, wobei sie ihn teilweise mit ihrem Körper schützten, und drehten sich dann abrupt um. Mit einem Schlag wurde der Palmwedel gegen sie gepreßt, sie atmeten seinen Geruch nach Staub und Stroh ein. Das Spiel bestand nun darin, gegen den Wind zu gehen und den Palmwedel dabei immer höher zu heben. Sieger war, wer
Weitere Kostenlose Bücher