Große Kinder
zuerst am Rand der Terrasse ankam, ohne daß der Wind ihm den Palmwedel aus den Händen riß, wer, den Palmwedel am ausgestreckten Arm hochhaltend, das ganze Körpergewicht auf einem vorgestellten Bein, siegreich und am längsten gegen die tobende Kraft des Windes stehenbleiben konnte.
(Camus, S. 273)
Wenn man großen Kindern die Gelegenheit lässt, haben sie immer Ideen, wie sie sich mit ihren körperlichen Fähigkeiten messen und verbessern können. Bei diesen Wettkämpfen geht es den Kindern im Grunde darum, festzustellen, was man aus seinem Körper mit energischem Willen herausholen kann und wo im Vergleich zu anderen die eigenen Grenzen liegen. Von der Reaktionsfähigkeit beim Computerspiel angefangen bis zum Laufen auf Händen, von der Strecke, die man tauchen kann, bis zum Erklimmen einer hohen Mauer, von der Geschicklichkeit und Schnelligkeit, sich nicht fangen zu lassen, bis zur Fähigkeit, den Gegner mit dem Ball zu umdribbeln und insTor zu treffen, vom hüfthohen Gummitwist bis zum Spagat, vom Stillstand auf dem Fahrrad bis zum Stehen auf dem galoppierenden Pferd, vom Geschwindigkeits-Händeklatsch-Spiel bis zur zirkusreifen Balanciernummer ... alles, was nach körperlicher Schwierigkeit aussieht, ist willkommene Herausforderung. Höher, schneller, weiter, geschickter, akrobatischer, geschmeidiger und kräftiger scheinen die Leitmotive aller körperlichen Aktivitäten zu sein.
Je nach Kind natürlich verschieden. Jungen verlocken Herausforderungen, die mit Kraft und Schnelligkeit zu tun haben, offenbar stärker als Mädchen, aber auch Mädchen haben durchaus ihren Spaß an Kämpfchen, auch sie haben ihre akrobatischen Ziele, ihren Bewegungshunger. Umgekehrt ist nicht jeder Junge erpicht darauf, schnell zu rennen, mit anderen seine Kräfte zu messen, auf Bäume zu klettern. Er versucht sich vielleicht lieber an handwerklichen Dingen oder im virtuosen Klavierspiel. Fest steht aber, dass der Spaß an Körperlichkeit, an Bewegung, Kraft und Geschicklichkeit in dieser Altersstufe bei allen Jungen und Mädchen ein ganz zentrales Lebensbedürfnis ist.
Entscheidend dabei ist, dass die Kinder sich ihre »Proben« selbst stellen. Sportübungen und Trainingsaufgaben, die von Erwachsenen gefordert werden, haben zu oft einen vollkommen anderen Stellenwert. Da wird »Leistung« verlangt, die sich am Erwachsenenmaßstab orientiert – und der ist für das einzelne Kind in der konkreten Situation häufig völlig unpassend. Stellen Sie sich vor, ein Sportlehrer würde von seinen Sechstklässlern verlangen, an einer frei stehenden Leiter hochzuklettern! Umgekehrt ist es für manche Kinder völlig absurd, beispielsweise immer am Dienstag zwischen 10.00 und 10.45 Uhr in einer Turnhalle in Staffeln hin- und herzurennen, nach Anweisung des Lehrers Purzelbäume zu schlagen oder auf demRücken liegend mit den Beinen zu strampeln. Mit der Förderung von Eigeninitiative und Willenskraft hat das wenig zu tun. Im Gegenteil, alles, was man auf Anweisung tun muss, schwächt das Gefühl für Eigeninitiative und Willenskraft.
Förderung von »Self-Efficacy-Erfahrung«, von »Selbst-Wirksamkeit« also, ist seit kurzem ein Schlagwort in der pädagogisch-psychologischen Literatur. Dabei geht es um die Frage, wie Jugendliche aus ihrer Passivität und »Null-Bock«-Haltung herausgeführt werden können und wie man ihnen vermitteln kann, was es heißt, aus eigener Kraft etwas zu erreichen. Hätten Kinder im Alter zwischen 7 und 13 Jahren mehr Möglichkeiten, aus eigenem Antrieb unbeaufsichtigt selbst erfundene Spiele zu spielen, gäbe es diese Probleme vielleicht nicht in dem Maße. In diesem Alter entwickeln Kinder nämlich nicht nur Phantasie, sondern in phänomenaler Weise auch Willenskraft, Selbstbeherrschung, Ausdauer und Motivation.
Louis Pergaud beschreibt in seinem Roman
Der Krieg der Knöpfe,
wie sein Freund Camus (der übrigens nichts mit Albert Camus zu tun hat) auf Bäume kletterte:
Ein Baum mochte noch so dick sein, Camus ging ihn an wie ein antiker Ringkämpfer seinen Gegner: Er umschlang ihn einfach mit beiden Armen. Oft waren diese Arme sogar zu kurz, um den Stamm ganz zu umfassen. Aber das machte nichts! Wie Saugnäpfe hafteten Camus’ Handflächen an allen Knoten der Rinde; seine Beine überkreuzten sich und formten einen Ring wie die gekrümmten Äste eines Weinstocks. Ein fester Druck der Knie schnellte ihn um dreißig bis fünfzig Zentimeter in die Höhe. Dann klammerten sich die Hände
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