Großmutters Schuhe
hab ich ihm einen Pullover gestrickt, weiß mit irischem Muster, ich könnte heulen vor Freude, wenn ich sehe, dass er ihn trägt, manchmal sogar im Sommer über die Schultern geworfen. Vorhin im Auto hat er mich gefragt, ob Edith eine Verfügung getroffen hat, dass ich im Haus wohnen bleiben kann. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Er hat den Kopf geschüttelt und wieder einmal erklärt, wie weltfremdich bin, nach all diesen Jahren hätte wenigstens das geregelt werden müssen. Natürlich, hat er gesagt, könne ich bei ihnen wohnen, wenn mich der Kinderlärm nicht störe. Es wäre eher ich die, die stört. Der Gedanke ist furchtbar. Warten wir die Testamentseröffnung ab, sagte er, bevor wir irgendetwas unternehmen. Ich weiß nicht einmal, ob Edith ein Testament gemacht hat, sie hat ein paar Mal davon geredet, aber dann hat sie immer gemeint, es wäre so schwierig, gerecht zu verteilen, und sie hätte ohnehin nicht die Absicht, so bald zu sterben, schließlich ginge es ihr doch jetzt gut, die neue Hüfte wäre besser als die alte, und sie würde gern auf Davids Hochzeit tanzen und Patricias Promotion feiern. Ob die beiden dann an sie denken werden? Meine Füße tun weh, ich hätte doch nicht die Pumps anziehen sollen, wer schaut schon auf die Schuhe einer alten Frau? Trotzdem, gerade vor denen will ich nicht als die arme Verwandte dastehen. Was heißt arme Verwandte, nicht einmal das bin ich, oder doch, zwar nicht angeheiratet, aber beinahe, wie Stefanie zu sagen pflegte. Nein, nein, Edith, du sollst dich nicht meinetwegen genieren müssen. Blödsinn. Es geht nicht um dich, es geht um mich. Ab sofort geht es um mich, und dafür muss ich selbst sorgen, das nimmt mir keiner ab. Edith, wir beide hätten reden müssen. Ich hätte reden müssen, und du hättest mir Rede und Antwort stehen müssen. Jedem, der zu dir kam, hast du recht gegeben, wenn der Nächste genau das Gegenteil sagte, hast du dem auch recht gegeben. Runde Augen hast du gemacht, jeder hätte geschworen, dass du es ehrlich meinst. Hast du überhaupt eine Meinung gehabt? Früher, ja, aber in den letzten Jahren war dir ja nicht mehr wert als nein, gut nicht mehr als böse. Ich habe dir schon lange nicht mehr getraut, Edith, jedenfalls nicht, wenn ich allein in meinem Zimmer war, wenn ich einkaufen ging oder Zwiebelnschnitt. Was hab ich dich alles geheißen, wenn ich allein war. Sobald du dabei warst, hab ich dir geglaubt, alles hätte ich dir geglaubt, und dafür war ich dir böse, Edith, sehr böse. Wie kann man jemanden gleichzeitig bewundern und verachten, und wenn ich dich verachtet habe für deine Wankelmütigkeit, habe ich mich noch viel mehr verachtet, weil ich gewusst habe, wie sehr ich von dir abhängig bin, nicht wegen des Hauses, nicht wegen des Lohns, der war schon lange mehr Hohn als Lohn, das hast du gewusst, das hab ich gewusst, aber darum ging es nicht, es ging um die Achtung. Schrecklicher Gedanke, dass meine Selbstachtung von deiner Achtung abhing, dass du so wichtig warst, sogar den Weg zu meinem eigenen Sohn hast du mir verstellt, Edith, das muss auch einmal gesagt werden. Alles hat sich um dich gedreht, auch und gerade da, wo du großzügig warst mit deinem Geld, deiner Zeit, deiner Zuwendung, deiner Aufmerksamkeit. Ich weiß nicht, ob du dich in den Mittelpunkt gesetzt hast oder ob das die anderen getan haben, es kommt wahrscheinlich auch nicht darauf an, genau in der Mitte bist du gesessen und keiner hat den anderen sehen können, ohne gleichzeitig dich zu sehen, denn über dich hinweg und an dir vorbei konnte keiner schauen, warum sich keiner direkt dem Nachbarn zuwenden konnte, weiß ich nicht, aber es ging anscheinend nicht. Als wären alle eingegipst oder hypnotisiert oder was weiß ich und könnten nur mehr geradeaus starren. So wie jetzt auch. Alle schauen sie dorthin, wo du nicht mehr bist. Vielleicht warst du auch schrecklich allein in deinem Spinnennetz, aber ich denke nicht daran, deswegen Mitleid mit dir zu haben, du hättest die Wahl gehabt, die Fäden zu durchschneiden, du schon, wir nicht. Ach was, vielleicht stimmt auch das nicht. Die Vorstellung, dass ich vielleicht bei Andreas wohnen muss, macht mir Angst. Es wird Zeit,dass du dich um deine eigene Familie kümmerst, hat Andreas zu mir gesagt vor gar nicht langer Zeit. Meine eigene Familie? Seine Familie ja, das hoffe ich inständig, aber meine? Dieser ganze Haufen hier ist meine Familie, gerade weil es nicht meine ist, und das stimmt, obwohl ich es selbst nicht
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