Großmutters Schuhe
Schrecklich eigentlich, aber gut, das war ihre Sache. Den Töchtern gegenüber besteht nicht der allergeringste Anlass zu Dankbarkeit. Wenn da jemand dankbar sein sollte, dann sind sie es, ohne Mutter hätte Edith seit langem nicht mehr im großen Haus wohnen können. Mir kommt die Galle hoch, wenn ich daran denke, dass Edith Mutter erst vor zehn Jahren angemeldet hat, und keineswegsrückwirkend, also hat sie mehr als fünfundsechzig Jahre für diese Familie gearbeitet und bekommt nicht einmal eine Mindestrente. Aber Mutter hat sich bei Edith bedankt, als wäre es ein Geschenk, dass sie mit fünfundfünfzig Jahren Verspätung und einem Lohn, den man nur als Beleidigung bezeichnen kann, legalisiert wurde. Nach fünfundsechzig Jahren fleißiger Arbeit hat sie mit großer Wahrscheinlichkeit in Bälde nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Selbstverständlich kann sie bei uns wohnen, darum geht es nicht, bei uns ist immer Platz für sie, da ist Vreni mit mir völlig einer Meinung, aber für einen Menschen, der sein Leben lang gearbeitet hat, ist es kaum angenehm, auf andere angewiesen zu sein, auch wenn es der eigene Sohn ist. Im Grunde müsste man ja auch bedenken, dass es nicht nur um sie geht, es betrifft mich genauso, ihr großzügiger Verzicht geht weitgehend zu meinen Lasten. Aber daran hat sie wohl keinen Gedanken verschwendet, wenn es um die Karmanns geht, ist alles andere nebensächlich. Oft und oft habe ich ihr gesagt, die Dinge müssen geklärt werden, ich habe ihr auch angeboten, mit Edith zu reden, aber sie ist ja in gewisser Hinsicht dickköpfig wie eine Dreijährige, suhlt sich geradezu in ihrer Weltfremdheit, dass sie mich damit in eine Zwangslage bringt, würde ihr nicht im Traum einfallen. »Edith hat gesagt, ich bin für sie wie eine Schwester, sogar mehr als eine Schwester, es wäre ein Vertrauensbruch, von ihr etwas Schriftliches zu verlangen. Das ist ein Vertrag auf Gegenseitigkeit, verstehst du nicht, sie weiß, was ich ihr wert bin, und ich weiß, was sie mir wert ist. Nie wird sie mich im Stich lassen, nie.« Ich bin neugierig, ob Edith wenigstens so viel Anstand gehabt hat, eine Regelung für Mutter zu treffen, aber dazu müsste sie zunächst einmal anerkannt haben, dass sie genauso sterblich ist wie der Rest der Menschheit, und irgendwiekann ich mir nicht vorstellen, dass sie sich je so weit in die Niederungen bewegt hat. Sie war eine bemerkenswerte Frau, gewiss, aber ihr Hochmut war vielleicht noch bemerkenswerter. Manchmal habe ich den Eindruck, dass diese ganze Familie zwischen mir und meiner Mutter steht, dass diese Leute ihr Lebensmittelpunkt sind und immer waren. Edith natürlich vor allen anderen, immer nur Edith … Ich weiß, ich verdanke ihr wahrscheinlich mein Leben, ohne sie wäre Mutter damals vielleicht nicht durchgekommen, aber andererseits bin ich ziemlich sicher, dass dieser Clan ohne Mutter nicht durchgekommen wäre. Selbstverständlich bin ich Edith dankbar, Herrgott, schon als Dreijähriger musste ich im besten Sonntagsstaat mit einem Blumenstrauß in der Hand diese grauenvollen Verse aufsagen und lebenslängliche Dankbarkeit beteuern. Lebenslänglich bedeutet verdammt noch einmal bei guter Führung fünfzehn Jahre. Mehr als viermal fünfzehn Jahre lang war Mutter bereits dankbar, und ich auch, jedenfalls dreimal fünfzehn Jahre lang, das müsste nun wirklich genügen. Meiner Mutter ist überhaupt nicht klar, dass sie mit ihrer ewigen Rücksichtnahme dieser Familie gegenüber mich belastet, wenn sie nicht für ihre eigenen Interessen eintritt, wird das letztlich nur eine Erpressung mir gegenüber. Mutter leidet, wenn sie die Tischmanieren meiner Söhne sieht. Ich leide noch sechzig Jahre später darunter, wie sie mir meine Tischmanieren beigebracht hat. Man kaut nicht mit offenem Mund. Man spielt nicht mit dem Essen. Man hält die Gabel nicht wie ein Bauer. Man schmatzt nicht. Man schlürft nicht. Man nimmt nicht so große Bissen. Man wetzt nicht auf dem Sessel herum. Bis jede Mahlzeit eine Tortur war. Selbstverständlich hätte ich es nicht in Worte fassen können, aber ich spürte genau, dass ihre Menschenwürde von meinen Tischmanierenabhing. Nicht nur den Tischmanieren, meinem Benehmen überhaupt. Der perfekte Sohn als ihre Rechtfertigung vor der Welt, und vor der Familie im Besonderen. Familie in Großbuchstaben, Familie per se, das waren immer die Karmanns, nie wäre sie auf die Idee gekommen, sie und ich wären eine Familie. Verdammt, Familie in ihrem Mund roch nach
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