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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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natürlich nie zugegeben, aber die Nachrufe hätten dir gefallen, und nicht nur, weil sie dir Gelegenheit zu sehr spitzen Bemerkungen gegeben hätten. David hat sich ein paar Mal auf die Lippen gebissen, um nicht zu lachen, alsich zufällig zu ihm hinübergeblickt habe. Zu keinem deiner Kinder und Enkelkinder hattest du eine Beziehung wie zu David und Patricia. Ist es ein bösartiger Verdacht, wenn ich mich frage, ob das an ihrer Schönheit liegt? Wenn du überhaupt lieben konntest, was ich nicht weiß, dann hast du sie geliebt. Wo ist die Grenze zwischen Wohlwollen und Liebe? Ist Verstehen eine Voraussetzung für Liebe? Oder beginnt die Liebe dort, wo das Verstehen aufhört? Ach, Edith. Darüber hättest du gern geredet, theoretisch natürlich, deine lange dünne Zigarette wäre im Aschenbecher verglüht, möglicherweise hättest du gedankenverloren eine zweite angezündet, während aus der ersten noch eine dünne Rauchfahne aufstieg. Schön waren deine Hände, und immer kühl. Es war wunderbar, Fieber zu haben, dann legtest du mir eine Hand auf die Stirn, und wenn die heiß geworden war, die andere. Von deinem geglückten Leben haben viele gesprochen, und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob du da den Kopf schief gelegt und den Mund verzogen hättest. Natürlich haben alle auch von Kindern und Enkelkindern und Urenkeln gesprochen, im Kreise von, du weißt schon, Erbe und Auftrag und Verantwortung. Hast du dein Leben als geglückt angesehen? Die Frage nach dem Sinn gelöst? Immer öfter kommt mir der Verdacht, dass die Frage nicht beantwortet, sondern nur weitergereicht wird, so nach dem Motto: Ich weiß nicht, ob es Sinn hat, aber da ich alles nur für dich tue, übernimm du gefälligst diese eine Frage für mich. Was für eine schreckliche Bürde, eine Riesenlast, die wir Kindern auf die schmalen Schultern legen. Diese Suche nach Sinn, liegt da nicht eine Verwechslung vor? Sinn als Synonym für Erlösung? Mir kommt es vor, als verlangten wir von diesem Sinn, wie immer er sich definiert, er müsste der gemeinsame Nenner sein, der aus allen Bruchstücken und Zufälligkeitenunseres individuellen Lebens ein Ganzes macht. Müssten wir am Ende tatsächlich zurück zur Natur, nicht nur zum Bioladen? Dann wäre es genug, Junge zu kriegen, die wiederum Junge kriegen, die Erhaltung der Art sichern. Aber wir wollen ja nicht die Art, wir wollen das Individuum. Ach, Mist, ich glaube, ich verheddere mich in den vielen Unbekannten der Gleichungen in meinem Kopf. Da gab es doch einen Buchtitel ›The selfish gene‹, wie würde ich das übersetzen, das selbstsüchtige Gen oder das egoistische, es muss noch ein anderes Wort geben, das mir im Moment nicht einfällt, also jedenfalls wäre der Sinn des Lebens die Weitergabe des genetischen Materials. Ein Stafettenlauf. Ich glaube es einfach nicht. Ich will es nicht glauben. Obwohl es in gewisser Weise tröstlich wäre, dann hätte ich ja meine Aufgabe erfüllt, als ich Raffael zur Welt brachte und ein gutes Jahr darauf Theresa. Sollen die sich um den Sinn kümmern. Ich werde ja jetzt wohl endlich alt sein dürfen, nicht mehr Tochter, nur noch alte Frau, Familienälteste bitte sehr, also eine Respektsperson, ob mir deine Schuhe zu groß sind, liebe Mutter, danach fragt keiner, danach hat keiner zu fragen, und wenn ich auf die Nase falle, weil ich darin zu gehen versuche, dann falle ich eben auf die Nase, ist ohnehin kein Prunkstück, diese Nase, und mit dem Alter noch klobiger geworden. Mit diesem Tag sind wir alle ein Stück vorgerückt in der Hierarchie der Familie, niemand steht mehr vor Rieke und mir. Wie finde ich das? Ist es jetzt unsere Aufgabe, Windbrecher zu sein für die anderen? Schlimm, ich weiß, dass ich die Männer nicht mitzähle, aber das würde ich ihnen nicht antun wollen, den Armen. F. T. und Eberhardchen in je einem von Mutters Schuhen? Da gibt man ihnen am besten einen Kochlöffel und lässt sie Regatta spielen. Wobei sie vermutlich die Kochlöffel nicht als Ruder, sondern als Schwerterverwenden würden, die zwei Platzhirschlein. Jetzt würde Edith einen Finger heben, und weil ihr das gleich oberlehrerhaft vorkommen würde, würde sie ihn an den rechten Nasenflügel legen, als hätte sie nie etwas anderes vorgehabt, als tiefes Nachdenken auch körperlich auszudrücken, und dann würde sie sagen: Stefanie, du bist gemein. Womit sie ja auch recht hätte. Es geht übrigens nicht um diese Gitti und alle ihre Vorgängerinnen und die, die noch kommen werden. Es

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