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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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geht um den Mann, den ich geheiratet habe, und den F. T. in den Bankrott getrieben hat, um selbst Erfolg zu haben. Nein, Mutter, das ist keine weit hergeholte Metapher, das ist einfach so. Ich trauere um dich, ja, aber ich trauere jetzt schon seit mehr als zwanzig Jahren um den Menschen, der Friedrich Theodor hätte sein können. Nein, ich bin nicht zum Richter bestellt, Herrgott noch einmal. Weißt du, Edith, was das Unerträglichste an dir ist? Dass du dich so in mir eingenistet hast, und das ist bitte schön pervers, ich kann doch nicht mit meiner eigenen Mutter schwanger sein. Jedenfalls redest du mir ja noch mehr drein, als du es schon zu deinen Lebzeiten getan hast!

Lisa setzte sich auf den Küchenhocker, für eine Minute nur, gleich würde sie wieder ins Extrazimmer gehen und die letzten Bestellungen aufnehmen.
    Hanka saß mit weit vorgestreckten gegrätschten Beinen auf dem Küchenboden, den Rücken an den Kühlschrank gelehnt. Plötzlich fing sie an zu erzählen. Sie war weggelaufen aus ihrem Dorf, einem Dorf mit unaussprechlichem Namen, nach einem Fest, bei dem ihr Onkel sie so fest an sich gedrückt hatte, dass sie gespürt hatte, was er in der Hose hatte, gegraust hatte ihr und Angst hatte sie gehabt, aber als sie versuchte, es der Tante zu sagen, hatte die Tante geschrien, sie lüge, sie habe immer schon gelogen, und überhaupt sei sie selbst schuld, warum habe sie so viele Knöpfe an ihrer Bluse offen gelassen und die Röcke so kurz, eine Schande sei das für die ganze Familie. Noch am selben Abend war sie weggerannt, ohne zu wissen, wohin, ein Lastwagenfahrer nahm sie mit bis nach Przasynz, der habe sie dann aber auch hinausgeworfen irgendwo zwischen den Dörfern, weil sie nicht wollte, was er wollte, und dann sei sie gegangen, einfach der Straße nach, von einem Schlagloch ins nächste gestolpert. In einer Kirche habe sie sich ausruhen wollen, da sei sie eingeschlafen, am Morgen habe sie gesehen, dass es eine Friedhofskapelle war. Als sie ihr Gesicht am Brunnen wusch, kam der Totengräber, der war so alt, dass sie beschloss, vor ihm keine Angst haben zu müssen. Er holte ein Stück Brot aus der Tasche seines Kittels, brach es in zwei
Teile und reichte ihr eine Hälfte. Unter seinen Fingernägeln war schwarze Erde, Friedhofserde, aber sie war so hungrig, dass sie das Brot nahm. Woher sie komme, fragte er, und wohin sie unterwegs sei. Weg, sagte sie, da nickte er, als wäre damit alles gesagt. Sie saß auf der Mauer, während er das Grab schaufelte, dann fuhr sie mit ihm auf seinem Leiterwagen ins Dorf. Sein Pferd war eine Stute mit glänzendem rotbraunem Fell.
    Bärbel streckte die Hand aus und fuhr Hanka über den Kopf. Hanka rutschte auf dem Boden näher zu ihr, lehnte schließlich ihren Rücken an Bärbels Beine, schloss die Augen und hielt ganz still unter den Streichelhänden.
    Sie schreckten erst auf, als der große Dicke in der Küchentür stand und höflich fragte, ob er noch etwas bestellen könne. Die Glocke aus dem Extrazimmer hatten sie überhört. Alban übernahm es, sich für alle zu entschuldigen. Der Dicke sagte, das sei kein Problem.
    Hanka fuhr sich durch die Haare, als wäre sie eben aufgewacht. Lisa legte ihr die Hand auf die Schulter. »Bleib nur. Wir schaffen das zu zweit.« Hanka nickte, rollte sich zusammen wie ein junger Hund und schlief ein.

Andreas, 61
    Ich hätte Vreni nicht mitnehmen sollen, für sie muss das ja noch weit fürchterlicher sein als für mich. Andererseits macht sie mich oft genug wahnsinnig mit ihren bohrenden Fragen nach meiner Vergangenheit, meine Gegenwart genügt ihr nicht, was immer das bedeuten mag, nichts Schmeichelhaftes für mich, fürchte ich. Dieses Panoptikum gehört zu meiner Vergangenheit, ob ich will oder nicht. Ich hatte irgendwann gedacht, ich hätte sie hinter mir gelassen. Da kann ich nur hohl lachen. Aber was mich wirklich wahnsinnig macht, ist Mutters Dienstbeflissenheit gegenüber diesen Lemuren, die sie ihr Leben lang nichts als ausgenützt haben. Ich kann ja noch mit Nachsicht aller Taxen, aber wirklich mit Nachsicht aller Taxen, verstehen, dass sie Edith dankbar ist, Edith hat ihr einmal geholfen, ja, ich weiß, wie oft hab ich das gehört, bis zum Erbrechen oft, ohne Edith wäre sie ganz verloren gewesen in der Schwangerschaft, aber Herrgott, für diese Hilfe hat sie mit lebenslänglicher Dienst- und Dankbarkeit bezahlt, lebenslänglich für ein paar Monate Beistand, das ist doch weiß Gott unverhältnismäßig. Treue bis zum Tod.

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