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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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»von Familie« wie in Kolportageromanen. Von Familie, hoch über allen anderen. Tut mir leid, ich bin nicht perfekt, aber sie sind es auch nicht, keiner von ihnen. Wie denn auch. Ich soll mich nicht aufregen, hat mein Arzt gesagt, der hat leicht reden, kennt die Karmanns nicht. Warum zum Kuckuck verfalle ich in die alten Muster, immer noch, obwohl ich inzwischen ja nun wirklich auch Bestätigung dafür erfahren habe, dass ich ein durchaus nützliches Mitglied der Gesellschaft bin – mehr als die meisten, die hier sitzen, von sich behaupten können, das ist einmal sicher –, und trotzdem fühle ich mich, als stünde ich unter Beweisnotstand, was keineswegs der Fall ist. Eigentlich könnte ich darüber lachen, dass ausgerechnet ich vor diesen Leuten stehe wie ein schlecht vorbereiteter Maturant vor der Prüfungskommission. Was habe ich Raffael und Thomas beneidet, auch Anna und Theresa, für ihre Weltläufigkeit, wie selbstverständlich sie sich überall bewegten, für diese – ja, so ungern ich es sage, diese natürliche Überlegenheit. Was war ich für ein lahmer Ackergaul neben diesen Vollblutrennpferden, gehemmt in jeder Bewegung, stur büffelnd, ein braver, etwas übergewichtiger Schüler. Einmal bei Ediths Geburtstag bückte ich mich, um die Serviette meiner Nachbarin aufzuheben, ich glaube, es war Lilly, aber egal, und sah die ganze Gesellschaft aus der Perspektive unterm Tisch, Schuhe, Hosenbeine, Waden. Zwischen italienischen Mokassins, F. T.s handgenähten Brogues, den Stiefeletten der Damen, meine breiten, klobigenSchuhe. Zweimal ist mir die Serviette aus der Hand gerutscht und ich musste mich ein zweites und drittes Mal bücken. Ich sehe noch, wie Annas rechte Augenbraue immer höher wanderte.
    Wie komme ich dazu, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil Rainer versucht, mit Ketchup seinen Namen aufs Tischtuch zu schreiben. Was erwartet man denn vom Enkel eines vierzehnjährigen Flakhelfers und eines Dienstmädchens? Ich gehöre nicht zu dieser Familie, und ich bin stolz darauf. Ist ja gut, Vreni. Wie warm deine Hand ist. Bitte lass nicht zu, dass ich dich vertreibe mit meinem Talent zu Missmut und Unzufriedenheit. Du glaubst manchmal, ich wäre mit dir unzufrieden. Herrgott, Vreni, du bist das Einzige in meinem Leben, womit ich nie, nie, nie unzufrieden war. Warum kann ich dir das nicht sagen?
    Ich will ja von dir lernen, leicht und fröhlich zu sein, Vreni. Hab Geduld mit mir. Manchmal schüttelt mich die Angst, du könntest weggehen, weil ich dir zu düster bin, zu schwer, zu, ja, doch auch zu alt. Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte? Den Finger in Rainers Ketchup zu tauchen und deinen Namen aufs Tischtuch zu schreiben.
    Eine Sekunde lang hätte ich mir fast eingebildet, du wärst kurz auf Besuch in meinem Kopf gewesen, Vreni, du hattest so ein verschmitztes Lächeln in den Augenwinkeln. Dann hab ich verstanden, dass du Patricia zugehört hast. Ich wüsste gern, was sie zu dir gesagt hat, aber das kann ich ja nun wirklich nicht fragen.

Louise, 80
    Jetzt hast du doch nicht erlebt, dass die Betty Uprichard blüht, die du mir geschenkt hast. Gestern ist die erste Knospe aufgegangen, du hättest deine Freude daran gehabt. Was war das für ein wunderbarer sonniger Vorfrühlingstag, als wir in die Rosengärtnerei fuhren. Dieses unvergleichlich strahlende Licht, in den eigenen Adern habe ich gespürt, wie der Saft in den Zweigen hochsteigt. Als einzige Gäste sind wir in Mantel, Schal und Handschuhen vor der Konditorei in der Sonne gesessen, natürlich war es noch zu kalt, aber um nichts in der Welt wären wir hineingegangen, gekudert haben wir wie zwei Backfische über die Blicke, mit denen uns die Vorübergehenden gemustert haben. Du hast ein Punschkrapferl bestellt, rosa passend zur Rose, hast du gesagt, obwohl du Punschkrapferln nicht leiden konntest, viel zu süß, hast du gesagt, und viel zu politisch, aber es gab keine rosarote Torte ohne braunes Innenleben.
    Ich bin neugierig, was sie dir aufs Grab pflanzen werden. Vielleicht sollte ich mit Stefanie und Friederike darüber reden, ich bin nicht sicher, ob die wissen, dass du Eispelargonien genauso schrecklich gefunden hast wie ich. Stiefmütterchen würden dir gefallen, in allen Farben gemischt, aber die werden sie wohl nicht nehmen, weil sonst jemand denken könnte, sie hätten dich als Stiefmutter betrachtet. Sie haben oft so seltsame Anwandlungen. Dieses Jahr wird das Grab noch ziemlich traurig aussehen, es dauert ja so lange, bis sich die Erde

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