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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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war?
    Ehe er wußte, was er tat, war er wieder auf dem Fluß, warf das Kanu in die Strömung, trieb flott dahin, die nahe Uferböschung rauschte an ihm vorbei, und der Wind pfiff ihm ins Gesicht. Howard Walpoles Haus lag unterhalb des Orts, kurz vor der Einmündung des Junebug Creek, etwas abgesetzt ragte es von einer Steilküste auf und bot volle einhundertachtzig Grad Ausblick über den Fluß. Schlimmer noch, es konnte mit Doppelfenstern aus Isolierglas aufwarten, die Howard sich aus Oakland, Kalifornien, hatte kommen lassen und aus denen er vom Frühstück bis zum Abendessen problemlos alles im Auge hatte, was sich am Ufer oder auf dem Wasser bewegte, und Howards guter 7 × 42-Feldstecher aus Armeebeständen hing immer griffbereit. Daran dachte Sess, als der Regen einsetzte und der Wind ihm Gesicht und Hände mit kalten, stechenden kleinen Geschossen belegte, die weniger wie Regen und viel eher wie Hagel wirkten, nur wollte er das gar nicht wissen. Er dachte immer nur an Pamela und hielt sich in Ufernähe, wo ihn der Wind nicht ganz so leicht aufspüren konnte.
    Es wäre eine unglaubliche Blamage – eine unsägliche, nicht auszudenkende Schande – für ihn, auch nur im Umkreis von fünfzehn Kilometern von Howards Haus gesehen zu werden, eine Geschichte, die er in tausend Jahren nicht ungeschehen machen könnte. Falls ihn jemand da draußen entdeckte – Howard zum Beispiel oder Pamela –, müßte er aus Alaska verschwinden und sich ein Zimmer suchen, irgendwo in einem heruntergekommenen urbanen Dschungel wie Cleveland oder Brooklyn oder einem ähnlich gottverlassenen Ort, wo ihn der Tratsch darüber nicht erreichen konnte. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr, und während sich der Vormittag zum Nachmittag berichtigte, glitt er am anderen Ufer und in einem schweren Schleier aus schlechtem Wetter an Boynton vorbei.
    Er wußte nicht, was er da tat, hegte weder Plan noch Hoffnung. Allerdings hatte er seinen eigenen Feldstecher dabei, und er war besser auf dem Fluß und im Wald als die meisten anderen in Alaska, bis auf ein paar alte Hasen, aber die waren langsam zu alt, um noch wirklich gut zu sein. Als er an Ogden Stumps Anglercamp vorbeikam, das um diese Jahreszeit noch leerstand, war er sich darüber klar, daß ihn die nächste Flußbiegung in Sichtweite von Howard Walpoles Haus bringen würde, also bremste er mit dem Paddel und hielt sich uferwärts. Das Kanu brauchte er eigentlich nicht zu verstecken, tat es aber dennoch – was wäre, wenn Howard sie zufällig gerade für eine Spazierfahrt auf den Fluß mitnahm oder jemand hier Treibholz sammelte und es entdeckte? –, dann machte er sich entlang des schlammigen Ufers auf, in der einen Hand sein uraltes Springfield-Gewehr (um Bären abzuschrecken, nur dazu), in der anderen den Feldstecher.
    Es regnete jetzt heftig, so heftig, als würden die Menschen Wasser atmen und keine Luft, und Sess trug zwar seinen olivgrünen Poncho und unter der Kapuze noch eine Baseballkappe, aber von der Hüfte abwärts war er bis auf die Haut durchnäßt. Und er zitterte, zitterte jetzt schon, und er konnte unmöglich hier in der Nähe ein Feuer anzünden, ohne daß Howard Walpole gleich auftauchen würde, um sich Hände und Füße zu wärmen, ein bißchen übers Wetter zu quatschen und ihm ein Stückchen Fleisch für den Spieß anzubieten und dann die durchtriebene Bemerkung einzuflechten, daß Sess ja wohl recht weit weg von seinem Heimatrevier sei, oder? Also zitterte er und schlich näher heran, hielt sich immer im dichten Gestrüpp der Uferböschung, ging auf einem Wildpfad, den in der ganzen Zivilisationsgeschichte noch kein Mensch je benutzt hatte, jedenfalls nicht seit dem letzten Frost. Er sah die Spuren von Elch, Schwarzbär, Marder und Wolf. Der Regen fiel stetig, von den Blättern troff es nur so herab.
    Als er nur noch hundert Meter vom Blockhaus entfernt war, ließ er sich nieder und robbte auf dem Boden weiter, denn es wäre keine gute Idee, wenn ihn Howards Hunde bemerkten. Das Robben tat ihm gut, schließlich erinnerte es ihn an die Pirsch auf Rehe, wie er sie als Junge in den überwachsenen Waldbrandgebieten am Fuß der Sierras öfter unternommen hatte, außerdem bekamen so seine Ellenbogen die Gelegenheit, ebenso naß wie die Knie zu werden. Nach fünfzig Metern nahm er Deckung hinter ein paar mächtigen Preiselbeersträuchern und hob den Feldstecher an die Augen, dabei fühlte er sich nicht im geringsten billig oder erbärmlich. Er fühlte sich überhaupt nicht

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