Grün war die Hoffnung
gegen Tiere keine Pflichten gebe, ist geradezu eine empörende Roheit und Barbarei des Okzidents. Umfassendes Mitleid ist die wahre Grundlage der Moral.« Ein Autor war nicht genannt, und abgesehen von einem Copyright-Symbol am Fuß der Seite gab es kein Impressum.
Er blätterte um zu einer Collage von Fotos, die wie die Blütenblätter einer schwarz-weißen Blume um ein Zentrum angeordnet waren. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, was sie zeigten. Und als er es erkannte und begriff, durchfuhr ihn ein Gefühl des Ekels und der morbiden Faszination, wie damals, als er in der Junior High School gewesen war und in einer klaustrophobisch engen Lesekabine der Bibliothek Fotos von Überlebenden deutscher Konzentrationslager gesehen hatte. Doch diese Fotos hier zeigten keine Menschen, sondern die stummen, ausdruckslosen Gesichter von Rindern, Schweinen und Kälbern, von Hühnern, die vergeblich mit den Flügeln schlugen, während sie an einem Förderband hingen und dem Messer entgegenfuhren, das sie köpfen würde. Er betrachtete die Fotos genauer. Eines der Tiere, ein Schwein, das im Schlachthof an den Hinterbeinen aufgehängt war wie unzählige andere, sah ihn an, bei vollem Bewusstsein, und wurde auf den Schlachter zugeschoben, dessen dunkle Gestalt im Vordergrund zu sehen war.
Auf der nächsten Seite waren noch mehr Fotos: Truthähne, Lämmer, Hunde im Zwinger eines Tierheims, die auf die tödliche Spritze warteten. Und dann las er den Text, der das Schlachten bezifferte: acht Milliarden Hühner pro Jahr allein in den USA, hundert Millionen Schweine, vierzig Millionen Rinder (von denen fünfundzwanzig Prozent unsachgemäß oder unzureichend betäubt waren und somit im Grunde bei lebendigem Leib gehäutet wurden – es war nicht ungewöhnlich, dass sie zuckten, wenn man ihnen die Haut vom Kopf zog). Und die Bänder wurden nie angehalten, nicht einmal wenn ein Schwein zu sich kam, sich von den Fesseln befreite und panisch zappelnd in den Schacht fiel oder wenn eines, von Angst erfüllt, im Vereinzelungspferch stehenblieb und mit Schlägen und Elektroschocks angetrieben wurde. Er las von den Zuständen in den Mastbetrieben, wo Schweine in Koben lagen, die so klein waren, dass die Tiere sich nicht ein einziges Mal in ihrem Leben umdrehen konnten, von schnabelamputierten Hühnern, die zu Hunderttausenden in riesigen Lagerhallen gehalten wurden und nichts anderes kannten als Draht, Beton und den Geruch des Todes. Und dann waren da die Tierversuche: Man nähte jungen Katzen die Augen zu, um den Einfluss von Blindheit auf die Entwicklung zu erforschen; man unterzog Kaninchen dem Draize-Test, bei dem ihnen eine ätzende Flüssigkeit in die Augen geträufelt wurde, um die Verträglichkeit von Produkten der Kosmetikindustrie zu untersuchen; man injizierte Hunden Plutonium; man quälte und verstümmelte Affen auf jede nur denkbare Weise; man züchtete unzählige Ratten, nur um sie leiden und sterben zu lassen, transgenische Ratten, onkogenische Ratten, Ratten über Ratten.
In jener Nacht las er die Broschüre zweimal, und am nächsten Morgen nahm er sie mit ins Geschäft und legte sie wortlos neben der Kasse auf die Theke. Melody Appelbaum – neunzehn, mit Pausbacken und Kussmund – ahnte Schlimmes. Sie warf einen kurzen Blick auf das Heft und wandte den Kopf ab. »Woher hast du das?« wollte er wissen.
Sie zuckte die Schultern, als wollte sie sagen, es sei nichts, es sei so belanglos wie irgendein Werbezettel, und sie habe sich nichts Böses dabei gedacht und werde es wieder mitnehmen und nie mehr erwähnen. »Ich hab’s in der Uni gekriegt«, sagte sie schließlich, »von einem PETA-Mitglied. Er ist mein Freund.«
Und er war so wenig auf dem laufenden, dass er fragen musste, was PETA überhaupt war.
»So eine Gruppe von Aktivisten. Tierschützer.«
Er dachte kurz darüber nach und sah ihr in die Augen. Es waren Tieraugen, im Grunde nicht anders als die Augen jenes Schweins, als die Augen von Hunden und Katzen, ja sogar Fischen und Insekten. Es waren Organe, die dem Sehen und Verstehen dienten, es waren Fenster zur Seele. »Kannst du noch mehr davon besorgen?«
Wieder ein Schulterzucken. »Ich glaube schon.«
»Hundert? Fünfhundert?«
»Ich glaube schon.«
»Gut«, sagte er. »Die sollen hier auf der Theke liegen, genau neben der Kasse. Und du drückst jedem Kunden eins in die Hand.«
Das war der Tag, an dem er aufhörte, Fleisch zu essen – ein kalter Entzug. Natürlich brauchte er noch immer Eiweiß,
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