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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gehört hat, und was ist er überhaupt, ein Mexikaner? Armenier?
    Es gibt natürlich Präliminarien, wie bei einem Boxkampf. Andere Fälle, andere Leute. Aufstehen, hinsetzen, ja, nein. Aber dann wird der Fall »Vereinigte Staaten von Amerika gegen David Francis LaJoy« aufgerufen, und unwillkürlich macht sein Herz einen Satz. Man darf nie Schwäche zeigen, das weiß er und überprüft seine Muskeln, einen nach dem anderen, er strengt sich an, mit festem Blick und steinerner Miene dazusitzen. Der Staatsanwalt, ein dünnes, einfältig grinsendes Bürschchen, ein Schnösel mit Schnöselfrisur und einem karierten, eine halbe Nummer zu kleinen Anzug, der Tim Sickafooses Doppelgänger sein könnte, ruft Ranger Rick in den Zeugenstand, und dann muss das Gericht sich anhören, wie er langsam und methodisch erklärt, dass sein Verdacht durch den beratenden Ornithologen geweckt wurde und er schließlich das Boot des Angeklagten betreten und ihn festgenommen hat. Dann ist Sterling an der Reihe. Er erhebt sich von seinem Platz, knöpft sich Ranger Rick vor und geht noch mal alle Details mit ihm durch, bis dieser schließlich ganz kleinlaut wird und zugeben muss, dass er sich weder erinnert, was für Schuhe der Angeklagte am Tag des angeblichen Zwischenfalls getragen hat, noch sagen kann, ob sie sich irgendwie von denen unterschieden, die Wilson Robert Guttierez getragen hat, und anschließend darf Tim Sickafoose seine Pfeile verschießen, und so weiter, und so weiter.
    Er hat jede Menge Zeit zum Nachdenken (zum Beispiel war ihm nie bewusst, was für ein Langweiler Sterling ist: Seine Stimme ist wie die eines Fernsehsprechers im Spätprogramm, wenn sie die Popcornmaschinen und japanischen Küchenmesser an den Mann bringen wollen, sein Gesicht ist so schwer wie Schlaf, seine Haltung so schlaff, als wären die Knochen geschmolzen, sein Anzug ist ebenso langweilig wie seine Krawatte, aber vielleicht offenbart sich hier sein Genie, vielleicht will er den Richter langweilen, bis der ins Koma fällt, denn zu welchem Urteil würde ein komatöser Mann kommen, wenn nicht Freispruch?). Die Zeit schleppt sich dahin. Hin und wieder nimmt Anise seine Hand und drückt sie, eine Geste, für die er dankbar sein sollte, doch am liebsten würde er sich auf sie stürzen und sie würgen, denn er braucht kein Mitleid, kein Mitgefühl, keine Zuneigung oder was auch immer. Mitgefühl ist was für Schwache, für Schuldige. Es dauert nicht lange – Sickafoose hat seine Aussage noch nicht beendet und Sterling noch nicht angefangen, sie auf seine langweilige Art in Zweifel zu ziehen –, da beginnt er, Mitleid mit sich selbst zu haben. Sich Sorgen zu machen. Er mustert das Gesicht des Richters, als wäre es ein Fahrplan im Bahnhof, kompliziert, nichtssagend, tausend Strecken zu tausend Zielen. Er wird in den Knast wandern, dessen ist er sicher.
    Und warum? Weil er an etwas glaubt, an das einfachste und klarste moralische Gebot: Du sollst nicht töten. Es gab eine Zeit, da war er wie alle anderen, stopfte Burger in sich hinein, Hotdogs, Roastbeef, Salami, die Koteletts und Steaks und Hähnchenflügel, die sein Vater auf dem Grill briet und die seine Mutter mit Salat und Mais und frisch gebackenen Brötchen servierte, und wie alle anderen wusste er nicht, was dahintersteckte. Er ging zur Schule und aß in der Cafeteria die Spaghetti mit Fleischsauce, die Burritos und Tacos und das Carne asada, alles in Plastikschalen, verschlossen mit Alufolie. Auf dem Rasen des Gemeindecolleges saß er mit seinen Büchern, trank eine Cola, aß ein Sandwich mit Schinken und Avocado und verschwendete keinen Gedanken daran, dass der getrocknete, geräucherte, in Scheiben geschnittene Schinken einmal das Fleisch eines lebenden, empfindungsfähigen Wesens gewesen war. An Wochenenden schob er wie alle anderen seinen Einkaufswagen durch den Supermarkt, summte die Jingles und weichgespülten Beatles-Melodien mit, die aus den Lautsprechern sickerten, und das keimfreie Fleisch in der Kunststoffverpackung sah so harmlos aus, als wäre es von einem Baum gefallen, und die Hummer in ihrem Aquarium waren so wenig Gegenstand seines Mitleids oder auch nur seiner Neugier, als wären sie aus Holz geschnitzt. Irgendwo zog jemand eine Kuh auf, und irgendwo wurde sie geschlachtet und zerteilt, während irgendwo anders irgendein anderer Mensch in seinen Hummerfallen nachsah, ob sich irgendwelche dummen Tiere darin gefangen hatten. Die er dann verkaufte. Und in ein Aquarium warf. Und da blieben

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