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Gruenkohl und Curry

Gruenkohl und Curry

Titel: Gruenkohl und Curry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hasnain Kazim
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den Haushalt benötigten. Fließendes Wasser gab’s damals noch nicht.«
    Er wühlte in seiner Erinnerung, erzählte von der Umgebung, den Straßen und Gässchen, den Händlern und den vielen Kindern in der Nachbarschaft.
    Heute leben seine Cousinen – vier Schwestern – und deren Familien in dem Haus. Mein Vater würde all diesen Verwandten in wenigen Tagen zum ersten Mal persönlich gegenüberstehen. Eine fünfte Schwester kannte er dagegen sehr gut, als Einzige aus dieser Familie war sie nach Pakistan ausgewandert, wo sie sich bessere Chancen als Kunstlehrerin erhoffte; sie kam damals bei den Eltern meines Vaters unter und lebte dort wie eine eigene Tochter.
    Das Anwesen in Lucknow trug den Namen
Afzal Mahal
– der Afzal-Palast. Jeder in Lucknow kannte das Gebäude in der Straße
Nakhas
, die die Briten in Victoria Street umbenannt hatten, jenes Gebäude, das im ausgehenden 19. Jahrhundert erbaut worden war und einer wohlhabenden Familie gehörte – der Familie meiner Großmutter Afsar Begum.
    Noch heute sorgt der Name Afzal Mahal unter den schiitischen Einwohnern Lucknows für Respekt: In dem Haus befindet sich eine kleine Moschee für die Bewohner und ein
Imambara
, ein Schrein zu Ehren der Märtyrer Imam Ali und Imam Husain, Nachfahren des Propheten Mohammed, die von Schiiten als Heilige verehrt werden.
    Denn daran sollte es nach dem Willen der Bewohner keinen Zweifel geben: Hier lebte eine schiitische Familie, keine sunnitische. So wurde es von Generation zu Generation weitergegeben. Sunniten leben in Lucknow in ihren eigenen Vierteln, und Zusammenstöße zwischen ihnen und Schiiten sind in dieser Stadt sehr viel häufiger als zwischen Hindus und Muslimen.
    Wie alle indischen Häuser hat das Afzal Mahal ein Flachdach. Von hier aus ließen die Jungen ihre Papierdrachen, die
Patangs
, steigen. Zuvor hatten sie die Leinen durch Leim und pulverisiertes Glas gezogen. Jetzt waren sie scharf genug, um die Leinen anderer Drachen durchtrennen zu können. Der Sieger dieses traditionellen Wettbewerbs, den es noch heute überall in Südasien gibt, hatte zwar blutige Hände, dafür aber die Anerkennung der älteren Jungen – und vor allem der Väter, die häufig mit ihren Freunden Geld auf den Sieg ihrer Söhne setzten. Gewinner war, wer als Letzter mit seinem Drachen am Himmel übrig blieb. Die von den Leinen zerschnittenen Hände, erzählte mein Vater, gehörten zum Wettkampf dazu. Narben waren Zeichen besonderen Mutes.
    Afsar Begum, die Mutter meines Vaters, war Spross islamischer Adliger, die sich zu Ehren der Religion Extravaganzen wie die Moschee und den Schrein im eigenen Haus leisteten. Sie war im Afzal Mahal geboren, vermutlich irgendwann im Jahr 1909. Genau weiß das niemand, weil Geburtsdaten damals nicht registriert wurden und Geburtstage im alltäglichen Leben keine Rolle spielten. In ihrem langen Leben hat Afsar Begum kein einziges Mal ihren Geburtstag gefeiert. Sie starb im Dezember 2007 im pakistanischen Karatschi in einem ungewissen Alter.
    Auch in der nachfolgenden Generation ist in der Familie meines Vaters das Geburtsdatum nicht immer bekannt, jedenfalls manipuliert man es gern. Als meine Tante Zahra uns einmal besuchte, fragte ich sie, welches Datum denn in ihrem Pass stehe. Sie, die Älteste unter den Kindern von Afsar Begum, nannte mir einen Tag im Jahr 1939. Mein Vater wurde 1941 geboren und wurde der Jüngste von ihnen. Zwischen ihm und Zahra gibt es noch eine Schwester und zwei Brüder – wie also konnte 1939 stimmen? Ich traute mich nicht, sie zu fragen, das Alter von Frauen ist in Südasien ein genauso heikles Thema wie wahrscheinlich überall auf der Welt. Erst später erfuhr ich von einem Großonkel, dass sie 1930 geboren wurde.
    Vermutlich hat sie irgendeinem pakistanischen Beamten erzählt, dass sie 1939 zur Welt kam. Der wird keinen Nachweis von ihr verlangt haben, wissend, dass es sowieso keinen gibt. Möglicherweise hat er sogar ein paar Rupien dafür erhalten, ein Geldschein macht manches möglich.
    Pakistanische Beamte sind wunderbare Verjüngungskünstler, wirksamer als jeder Schönheitschirurg. Für wenig Geld wird man offiziell jünger. Eine meiner Cousinen hat sich um zwei Jahre jünger gemacht. Als sie Ende der Neunzigerjahre in die USA auswanderte, übernahmen die amerikanischen Behörden brav das Geburtsdatum aus den pakistanischen Dokumenten. Was hätten sie auch anderes tun sollen?
    In Südasien sind Daten und Zahlen nicht unantastbar. Ihre Aussagekraft schwankt daher

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