Gruenkohl und Curry
es nur ums Geld geht und die kriminell sind. Ihnen wird vorgeworfen, sie nähmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg, dann sollen sie, bitte, bitte, als Computerfachleute möglichst zahlreich hierher ziehen. Von Überfremdung ist die Rede, aber auch von dringend nötiger Zuwanderung wegen der alternden Bevölkerung. Je nach Stimmung und politischem Lager ist »Multikulti« ein wegweisendes oder ein gescheitertes Gesellschaftsmodell. Und gerade in Zeiten, in denen einige Menschen meinen, im Namen des Islam töten zu müssen, haben hier gleich alle Muslime (und Leute, die dafür gehalten werden) einen schweren Stand. Jeder hat eine Meinung, aber was sagen die Ausländer selbst?
Ich habe meine Eltern gefragt: Warum wolltet ihr nach Deutschland? Warum der Abschied von Pakistan kurz nach eurer Hochzeit 1974, von der Kultur, die ihr von Kindheit an kanntet, von einem Umfeld, in dem es euch gut ging? Warum all die Bemühungen um ein Leben in Deutschland, warum der Versuch, sich in eine völlig neue Kultur einzufinden? Und wie war das damals eigentlich, als wir kurz vor der Abschiebung standen? Als Freunde Unterschriften sammelten, damit wir bleiben durften? Als unser Hausarzt Atteste schrieb, wonach wir aus gesundheitlichen Gründen nicht ausgewiesen werden sollten und uns angeblich sogar psychische Störungen und Lebensgefahr drohten, sollten wir Deutschland dauerhaft verlassen müssen?
Meine Eltern schauten mich an, als wolle ein Kind etwas wissen, für das es eigentlich noch zu klein ist.
»Warum fragst du?«, erkundigte sich meine Mutter.
Da wollte ich so viele Dinge wissen – und war nicht darauf gefasst, selbst gefragt zu werden.
»Ach, na ja, wie soll ich sagen ...«
Ich wusste nicht, wie sie auf meine Antwort reagieren würden. Aber was soll’s, irgendwann musste ich ja raus mit der Sprache.
Also erzählte ich ihnen von meiner Idee. Davon, dass Freunde regelmäßig staunten, wenn ich von meiner Familie und vom Weg meiner Eltern erzählte. Und davon, dass ich dann jedes Mal hörte: Warum schreibst du das nicht auf? So, als ob Journalisten immer alles aufschreiben würden, selbst ihre privaten Dinge. Aber warum eigentlich nicht?
Meinen Eltern gefiel die Idee. Sie sagten es zwar nicht sofort, vielleicht mussten sie sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass ihr Sohn in ihrer Vergangenheit wühlen und sie für jedermann zugänglich machen wollte; zudem waren eine Menge unangenehmer Erinnerungen damit verbunden. Aber ihre Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Das fanden auch meine Eltern. Sie stimmten zu.
Ich begann also im Herbst 2006 mit der Recherche. Im Laufe der Zeit fand ich mehr, als ich erhofft hatte. Vieles davon hörte und las ich als Anfang-dreißig-Jähriger zum ersten Mal. Auch sehr seltsame Dinge. Am Ende hat diese Geschichte mich verändert.
»Wir haben auf dem Dachboden noch einen Karton mit Papierkram«, sagte mein Vater. »Da ist ein Ordner, in dem steht alles.«
In einer verstaubten Bücherkiste mit der Aufschrift »Papiere« lag sie, unsere deutsche Familienvergangenheit: drei Jahrzehnte in einer einzigen Kiste. Darin stapelten sich alte Rechnungen und irgendwelche Korrespondenz, die mein Vater aus welchen Gründen auch immer aufbewahren wollte. Ganz unten lag ein blauer Ordner. Mein Vater hatte den Familiennamen »Kazim« auf den Rücken geschrieben.
Ich kramte das schwere Papierbündel heraus und begann darin zu blättern. Briefe, Gutachten, Unterschriftenlisten, Petitionen, Gerichtsurteile, Anwaltsnotizen. Während ich die zum Teil vergilbten Papiere überflog, wurde mir klar, was meine Eltern durchgemacht, welchen Mut sie gehabt hatten: als junge Menschen ihre vertraute Umgebung zu verlassen, aus Abenteuerlust und Neugier auf ein anderes Leben in ein fremdes Land zu gehen und dort auf massiven Widerstand der Behörden zu stoßen. Ihr Weg hat meinem Leben die Richtung vorgegeben, einem Leben in zwei Welten, die unterschiedlicher kaum sein können.
Schließlich fand ich ein Schreiben des Landkreises Stade aus dem Jahr 1990, den Brief, der alles änderte.
Die Erinnerung kam wieder.
Am 12. November 1990, einem Montag, kam ich verschwitzt von der Schule nach Hause, auf dem gut sieben Kilometer langen Weg von Stade nach Hollern-Twielenfleth hatte ich aus meinem neuen Fahrrad alles herausgeholt. Im nächsten Sommer sollte ich in die elfte Klasse kommen, von da an wurden die Busfahrten kostenpflichtig, weil die Schulpflicht endete. Meine Eltern hatten angeboten, mir statt einer
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