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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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fürchtete. Sie würde hinunterstürzen, sich den Kopf an den Felsen aufschlagen und dann den ganzen steilen Hang hinunterrollen, den der Hirsch erklommen hatte.
    Doch plötzlich verlangsamte das Tier seine Gangart, und Mally hörte auf zu singen. Ali öffnete die Augen und erkannte, daß sie sich einem Gipfel näherten. Ihr klapperten vor Kälte die Zähne, und der Atem des Hirschs wogte in Wolken um sie herum. Sie war jetzt dankbar, daß das Tier sie von vorn und Mally sie von hinten wärmte.
    Der Bock verfiel in einen leichten Trab. Vor ihnen hoben sich Schatten gegen die Himmel ab, steinerne Formen, die Ali schon in Prospekten von Irland und Britannien gesehen zu haben glaubte. Im nächsten Moment befanden sie sich inmitten der Steingruppe, und der Hirsch blieb stehen. Mally glitt von seinem Rücken und landete unversehrt auf dem Boden.
    »Nun komm schon!« rief sie Ali zu.
    Ali schaute sich verwundert um. Die Steinformen wirkten wie ein urzeitliches Stonehenge - nicht von Menschenhand errichtet, sondern von einer verrückten Laune der Natur geschaffen. Oder von Göttern. Sind die Götter so am Wirken? fragte sich das Mädchen. Sind sie die verantwortliche Macht für alle Merkwürdigkeiten und Unmöglichkeiten, die in der Natur vorkommen? Vielleicht trugen diese Dinge ihre Handschrift ...
    Die Steine überragten Ali um das Dreifache - und dabei saß sie immer noch auf dem Hirsch. Der riesige Mond, der dicht über ihnen hing, schien von ihren Spitzen aufgespießt zu werden.
    »Ali, Ali in der Freiheit!« sang das wilde Mädchen.
    Ali drehte sich nach ihr um. Mally hatte ihren Hut verloren, und ihr Haar war ein wildes Dickicht, das ihr in allen Richtungen vom Kopf abstand. Sie hüpfte von einem Fuß auf den anderen und tanzte zu ihrer inneren Musik. Ali schoß der Refrain von Cyndi Laupers ›Girls Just Want To Have Fun‹ durch den Kopf ...
    Mally breitete die Arme aus. Ali betete zu irgendeinem Gott - welcher auch immer sie hörte -, sie möge nicht stürzen und sich den Kopf an den Felsen zerschmettern, und rutschte unbeholfen vom Rücken des Hirsches. Mally fing sie auf.
    Sofort trottete der Hirsch davon, blieb zwischen zwei großen Felsformationen stehen und starrte nach Osten. Sein Geweih ragte wie die kahle Krone eines Baumes in den Nachthimmel. Ali trat vorsichtig zu ihm, um zu sehen, was er sah, und ihre Beine waren wie Gummi. Ehe sie die Felsen erreichte, sprang Mally an ihr vorbei. Das wilde Mädchen eilte sorglos auf einen Abgrund zu, der, wie Ali später feststellte, als sie schließlich neben ihr stand, Hunderte von Fuß in die Tiefe stürzte.
    »Welch eine Nacht!« murmelte Mally. »Welch eine magische Nacht!«
    Ali erschauerte. Ihr stand der Atem vor dem Mund. Ihre Jeans und die Windjacke, die sie trug, konnten sie nicht vor der Kälte schützen.
    »Hier«, sagte Mally und hielt dem Mädchen ihre Jacke hin.
    »Aber du ...«
    »Ich kann nackt durch einen Schneesturm laufen, ohne zu frieren. Kennst du mich denn immer noch nicht?«
    Ali schüttelte den Kopf. »Du bist ein Geheimnis«, murmelte sie und schlüpfte in die Jacke. Sofort wurde ihr wärmer.
    »Was tun wir hier, Mally? Wo ist dieses Hier? «
    Das wilde Mädchen zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
    »Aber wir müssen doch irgendwo sein.«
    »Vielleicht sind wir im Innern des alten Steins«, meinte Mally lachend. »Ich weiß es wirklich nicht, Ali. Dies ist ein Ort, den Old Hornie aufsucht, wenn er dem nahe sein will, dessen Teil er früher war.«
    »Ich möchte zurück!« erklärte Ali.
    Mally drehte sich zu ihr um und betrachtete lange ihr Gesicht.
    »Wirklich?«
    »Nun ...« Ali sah das Gesicht ihrer Mutter vor sich. Frankie wäre krank vor Sorge, wenn sie erführe, daß Ali weg war. Tony auch. Außerdem fürchtete sie sich, wenn auch nicht mehr so wie zuvor während des wilden Ritts. Wollte sie wirklich zurück? Denn dies war doch ihre große Chance, ihr großes Abenteuer. Sie hatte sich immer gewünscht, daß so etwas einmal geschähe: durch eine Geheimtür im Schrank in einen verborgenen Gang einzusteigen und eine ganz neue Welt zu entdecken. Einen Kaninchenbau zu erkunden. Irgend etwas Außergewöhnliches zu tun - wie die berühmten fünf Freunde von Enid Blyton. Sie hatte Abenteuergeschichten und phantastische Erzählungen immer verschlungen, alles gelesen von Joy Chant bis Caitlin Midhir, und sich immer gewünscht, das Kind zu sein, das dies alles erlebte, hatte sich immer vorgestellt, nur ein einziges Mal den Wunderstein von

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