Grünmantel
Manchmal bin ich auch nicht so glücklich.«
»Warum hast du mich hierhergebracht?« fragte Ali. Sie hatte nun keine Angst mehr, sondern war nur verwundert.
»Wegen des Feuers in dir - das auch in Tony brennt.« Sie sprach seinen Namen als ›Too-nee‹ aus.
Ali runzelte die Stirn. »Feuer?«
»Ein Strahlen - wie ein Feuer aus Knochen.« Ali sah sie verwirrt an, und Mally versuchte ihr zu erklären, was sie meinte. »Ein Freudenfeuer, das die Menschen von den Hügeln in der Mittsommernacht anzünden, um der Mutter Mond ihren Gruß zu entbieten.«
»Ein Knochenfeuer?« fragte Ali.
»Das habe ich gesagt. Ein Freudenfeuer aus Knochen.«
»Du meinst, sie haben Knochen verbrannt?«
»Ein paar - um der Mutter der Erde ein wenig von ihrem Mark zurückzugeben.« Mally nahm Ali bei der Hand und führte sie in die Mitte der kreisrunden Steinformation. »Hier ist der Ort, an dem sie in dieser Nacht ihre Feuer entzünden«, erklärte sie und deutete auf einen dunklen Ring, der in den Fels eingebrannt war. Im Mondlicht hob er sich deutlich von dem helleren Gestein ab.
»Wer sind diese Leute?«
»Feen. Geheimnisse.«
Ali lächelte. War es denn wirklich so wichtig, alles zu wissen? Vielleicht nicht. Aber das sollte sie nicht davon abbringen, es immer weiter zu versuchen. Sie sah zu der Stelle hin, wo der Hirsch zuletzt gestanden hatte. Er war verschwunden. Der steinerne Kreis schien abgesehen von ihnen beiden leer.
»Der Hirsch ...«, begann sie.
Mally deutete auf die Stelle, an der sie den Kreis betreten hatten. Dort stand eine große Gestalt und spähte zu dem Wald hinüber, den sie zuvor durchquert hatten. Der Grüne Mann, dachte Ali, in seinem Umhang aus Zweigen und Blättern. Seine Hörner schimmerten im Mondlicht.
»Lewis möchte ihn in New Wolding behalten«, sagte Mally, »aber dort gibt es nicht mehr genug Leute für ihn. Tommy ruft ihn mit seiner Musik, und er durchstreift die Lande immer weiter. Dabei sammelt er die Reflexionen der Seelen ein, die ihn nicht verehren - von Menschen, die ihn nicht kennen, Seelen, die ihn nicht in sich aufnehmen können. Was sie reflektieren, verursacht ihm Schmerz. Es verändert ihn - macht ihn wilder, als wenn er frei wäre.«
»Und wie passe ich da hinein - und Tony?«
»Ihr beide habt das Feuer in euch -, aber nur in dir brennt es heller, und du bist ... reiner. Unberührter von der Dunkelheit, die andere Menschen in ihre Seelen aufnehmen, wenn sie die Kindheit hinter sich lassen.«
»Aber was erwartest du von mir? Was soll ich tun?«
»Du könntest ihn befreien.«
Ali sah von dem Grünen Mann zu Mally. »Ich?«
»Du könntest es. Es ist nicht so, daß du die einzige bist, die das könnte, aber du bist hier, in seiner Nähe. Also könntest du es tun. Und es wird Zeit. Gib ihm ein Signal mit einem Feuer aus Knochen. Ruf ihn statt mit Musik mit dem Feuer in deinem Innern - und du kannst ihn befreien.«
»In der Mittsommernacht?«
»Das wäre der beste Zeitpunkt, doch es ist auch zu jeder anderen Zeit möglich«, erklärte Mally. »Aber ich täte es an deiner Stelle so rasch wie möglich. Morgen nacht. Er wird Tommy spielen hören, aber er wird auch dich hören. Wenn du ihn dann stark genug rufst, wird er dich auserwählen, und du kannst ihn befreien.«
»Aber wie?«
Mally zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht genau. Du wirst schon wissen, was du zu tun hast. Mit dem Mond und den Zwillingsfeuern, dem draußen und dem in deinem Innern, wirst du es wissen.«
»Lewis sagt, es sei ein Unglück, wenn das Mysterium in die Welt freigelassen werde. Es nehme alle schlechten Dinge in der Welt auf und reflektiere sie. Jeder werde dann durchdrehen und alles zerstören.«
»Das könnte passieren. Wenn die ganze Welt so wäre wie New Wolding. Aber überall gibt es Mysterien, und die Welt überlebt immer, auch wenn sie ständig zwischen Kriegen und Katastrophen hin- und hertaumelt. Nein, Ali, es ist sehr einfach. Wenn der Hirsch in New Wolding bleibt, wo nur wenige Menschen ihn verehren können, wird er nicht länger eine positive Kraft sein. Er wird ausbrechen und großen Schaden anrichten. Wenn aber im Dorf genug Leute sind, die ihn verehren, dann wird alles so sein wie zuvor.«
»Du bist aber doch der Ansicht, er sollte befreit werden.«
»Ich glaube, daß du ihn befreien kannst«, erwiderte Mally - was nicht gerade eine Antwort auf Alis Frage war. Das wilde Mädchen betrachtete sie. »Du bist auf ihm geritten«, sagte es schließlich. »Du hast mit deinen Beinen
Weitere Kostenlose Bücher