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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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entlud. Frankies spitzer Schrei übertönte das rollende Echo des Schusses.

KAPITEL SECHZEHN
    Den Hirsch reiten.
    Es war die herrlichste Sache, die Ali je kennengelernt hatte - und die ihr am meisten Furcht einjagte. Der Wind brauste an den Ohren vorbei. Es war fast wie Musik, und die Hufe trommelten den Rhythmus dazu. Sie fühlte unter den Beinen, wie die mächtigen Muskeln des Tieres sich bewegten. Mally hielt sich lachend an ihr fest, während sie sich an den Hals des Hirschs klammerte und gleichzeitig lachen und weinen wollte.
    Einen Moment lang war es wie ein Schock für sie gewesen, als Mally sie auf den Rücken des Tiers warf. Sie sah den Schrecken in den Gesichtern von Tony und Tom, als der Hirsch vor ihnen herumtänzelte. Doch dann, als er davonpreschte, blieb nur noch Staunen. Der Hirsch bewegte sich in anmutigen weiten Sätzen vorwärts, ohne daß sie einen Stoß verspürten, wenn er wieder auf dem Boden aufsetzte oder sich mit kräftigem Muskelspiel erneut in die Lüfte schwang.
    Der alte Stein war verschwunden, wie auch Tommys Flöte und die tanzenden Dörfler verschwunden waren. Die Welt schien nur den beiden Mädchen auf dem Rücken des Hirschs zu gehören. In diesem Augenblick löste sich Alis Erstarrung, und Furcht ergriff Besitz von ihr. Sie stürmte mit einem mystischen Wesen und einem wilden Mädchen allein durch die Nacht. Entführt.
    Zum ersten Mal wurde ihr bewußt, daß sie schon zu lange und weit geritten waren, ohne einen Highway zu überqueren oder die Lichter einer Hütte oder eines Hauses zu sehen. Die Bäume, durch die sie jagten, schienen anders zu sein als die im Wald hinter Tonys Haus. Die Pinien sahen aus wie Mammutbäume und waren unglaublich hoch. Zwischen den Piniengruppen lag wildes Buschland mit Zedern, Eichen, Ahornen, Birken und Ulmen. Die Luft wurde kälter. Wenn Ali den Kopf wandte, verwehte ihr Atem wie Dampf in der Luft.
    Sie schaute auf, als sie über eine Lichtung hinwegstoben. Tief am Himmel stand ein riesiger Mond. Die Sterne schienen zum Greifen nahe, der Himmel war zu dunkel, ihr Schein zu hell. Ihr blieb gerade genug Zeit für diese Beobachtung, dann tauchten sie wieder in den Wald ein.
    Der Untergrund verlief nicht länger eben. Der Hirsch trug sie einen steilen Anstieg hinauf, der übersät war mit Brocken und seltsamen Auswüchsen aus Felsgestein. Das Trommeln der Hufe wurde lauter, als wäre der Untergrund zu einem riesigen irdischen Trommelfell geworden.
    Wo waren sie? Gern hätte Ali jemanden gefragt, aber es war keiner da, der sie hören konnte. Mally lachte und jauchzte immer noch und rief Worte, die entweder aus einer fremden Sprache stammten oder sich aus sinnlosen Lauten zusammensetzten. Und wie redete man eigentlich mit einem Hirsch? Ali beugte sich tiefer über seinen Nacken.
    »Halt!« rief sie und versuchte dabei so laut wie möglich zu rufen, um das Trommeln der Hufe und Mallys Gesang zu übertönen. Doch aus ihrem Mund drang nur ein leises Flüstern.
    »Halt bitte an.«
    Der Hirsch wandte leicht den Kopf, und Ali sah in eins der großen, feuchten Augen, ehe ihr Reittier den Kopf wieder nach vom richtete.
    »Ich habe Angst«, sagte sie.
    Sie wußte, daß dies hier nicht Lanark County war. Sie wußte nicht, wo sie waren, aber es war kein Ort, den sie kannte. Im Ottawa Valley gab es keine solch riesigen Bäume. Dort gab es keinen solchen Wald. Er ist zu ... ursprünglich. Es ist kein Ort für die Menschheit ... oder für kleine Mädchen, dachte sie. Es ist eine Wildnis.
    Der Hang wurde immer steiler, und plötzlich jagten sie aus dem Wald hinaus. Die Hufe des Hirschs klapperten über Fels, doch er wurde um keinen Schritt langsamer. Der riesige Mond war nun sehr nahe, ebenso wie die Sterne ...
    Dies ist keine Nacht, wie ich sie kenne, dachte Ali. Großer Gott, was geschieht mit mir?
    Während sie weiterhin in halsbrecherischer Eile den Hang erklommen, konnte sie ringsum meilenweit ins Land sehen. Nirgends Lichter, kein Anzeichen von Häusern oder Menschen. Nur der große Mond schickte sein Licht zur Erde, und die Sterne hingen so niedrig, daß Ali sie greifen zu können glaubte. So weit das Auge reichte, erstreckten sich dunkle Wälder bis zum unsichtbaren Horizont, den die Nacht verschluckte.
    Sie mochte nicht mehr hinsehen. Sie barg ihr Gesicht am Hals des Hirschs. Das Klappern der Hufe und Mallys Gesang vermischten sich mit dem Hämmern ihres Herzens, bis ihr so schwindlig wurde, daß sie im nächsten Moment vom Rücken des Tieres zu fallen

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