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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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hinübergeschaut, und auch jetzt verschwendete sie keinen Gedanken mehr an ihn.

    Lewis hob den Kopf, als sich Tommys Flötenspiel veränderte. Die Musik wurde heftiger, drängender. Ali regte sich, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Auch sie hatte die Botschaft verstanden.
    »Wir müssen gehen«, sagte sie. »Zum Stein. Diesmal ruft das Mysterium uns.«
    Lewis nickte. Langsam richtete er sich auf. Seine Gelenke schmerzten. Er stützte sich schwer auf Valentis Wanderstab. Ali stützte ihn auf der anderen Seite, während sie den Hügel durch Bäume und Buschwerk zum Stein hinunterstiegen. Die Musik klang lauter, aber nicht mehr so drängend. Wovon immer Tommy besessen war - es wußte, daß sie kamen. Als sie auf die Lichtung traten, verebbte das Flötenspiel zu leisen Pfeiftönen.
    »Hallo, Ali ... Lewis.«
    Mally wartete schon auf sie. Vor ihr lag der Körper von Valenti regungslos im Gras.
    »Er braucht Hilfe«, sagte das wilde Mädchen. »Ich dachte, Old Hornie könnte ihm helfen, aber er hockt nur da in Tommys Augen und tut nichts. Wirst du helfen, Lewis?«
    Lewis nickte und kniete neben Valenti nieder. Aber das Licht war zu schlecht, und er konnte nicht erkennen, was zu tun war.
    »Wir müssen ihn zu meiner Hütte bringen«, meinte er.
    Doch Mally schüttelte den Kopf. »Er muß hierbleiben. Old Hornie ist die einzige Kraft, die ihn noch am Leben erhält. Sag mir, was du brauchst. Ich werde es holen.«
    »Für den Anfang eine Laterne, dann heißes Wasser, saubere Tücher. Wir brauchen auch ...«
    Während er noch weitere Dinge aufzählte, kniete Ali neben Valenti nieder und strich ihm mit der Hand über die Stirn.
    »Was ist mit meiner Mutter?« fragte sie Mally und unterbrach Lewis.
    »Ihr geht es gut, sie wird bald hier sein.«
    Ali nickte und wandte sich wieder Valenti zu. »Nicht sterben, Tony. Ich habe dir soviel zu erzählen. Ich habe mit ihm gesprochen - mit dem Mysterium.«
    Seine Augenlider flatterten, und er sah sie an, versuchte zu lächeln. »Das ... das i ... ist groß ... artig ...«
    »Nicht wahr? Wozu mußtest du dich unbedingt anschießen lassen?«
    »Es ... w ... war ni ... cht meine Idee ...«
    »Das behauptest du. Ist jetzt alles vorbei?«
    »Ich ... glau ... glaube schon. Kommt drauf an ... was Mario er ... reicht ...«
    Ali legte ihm den Finger auf die Lippen. »Nicht mehr sprechen.«
    Sie schaute zu Lewis hinüber und stellte fest, daß Mally schon weg war. Tommy spielte immer weiter.

    Die Musik wurde immer lauter und wies Frankie den Weg. Nur bei den Trittsteinen hatte sie ein wenig Angst gehabt, aber dann erinnerte sie sich an Mallys Worte und überquerte den Bach. Als sie die Lichtung betrat, wurde sie schon von einer von Lewis’ Laternen erhellt. Sie sah Mally und ihre Tochter miteinander reden. Ein merkwürdig aussehender Junge saß bei einem großen Stein und spielte auf einer Flöte, der Quelle der Musik. Vor ihm lag ein Hund im Gras. Auch Tony lag im Gras - mit nacktem Oberkörper. Ein alter Mann verband seine Schußverletzung. Im Schein der Laterne sah Tony so blaß aus, daß Frankies Herzschlag für einen Moment aussetzte.
    »Mom!«
    Ali hatte sie bemerkt. Frankie ließ die Waffen fallen und zog Ali in ihre Arme. Das ist es, was zählt, dachte sie. Die Liebe zu meiner Tochter. Nur dafür hatte sie sich nicht von Earl verleiten lassen, die Dinge nach seiner Art zu regeln.
    »Gott sei Dank, dir ist nichts geschehen«, murmelte sie Ali ins Ohr.
    »Wir sollten uns selbst danken«, meinte Ali. »Denn wir waren es, die das alles geschafft haben.«
    Frankie drückte sie noch fester an sich.

Epilog

    Et in Arcadia ego.
    (Auch ich bin in Arkadien)
    Inschrift auf einem Grabstein
    in einem Gemälde von GUERCINO (1623)

    Nur für den weißen Mann war die Natur eine
    ›Wildnis‹, und nur für ihn war das Land
    ›verseucht‹ mit ›wilden‹ Tieren und
    ›grausamen‹ Menschen.
    Zu uns war das Land zahm.
    Die Erde war großzügig,
    und wir waren umgeben von den
    Segnungen des Großen Mysteriums.
    LUTHER STANDING BEAR,
    aus Land of the Spotted Eagle

Am frühen Morgen, noch ehe die Sonne aufgegangen war, saß Ali vor Lewis’ Hütte. Lewis und ihre Mutter waren drinnen. Lewis hockte am Küchentisch und war halb eingeschlafen. Frankie saß neben Tony am Bett, hielt seine Hand und sprach leise zu ihm, obwohl er sie nicht hören konnte. Er war ohnmächtig geworden, als Lewis ihn verarztete. Zwar ging sein Atem sehr flach, aber er lebte. Ali sah es gern, daß sie sich so nahe waren -

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